zen über diese unerwartete Nachricht, leblos vom Stuhle sinken, sie hörte, wie er stammelnd ihr fluchte, und Rache flehend verschied. Diese noch gräßlichere Vorstellungen bewogen sie immer zu längerm Stillschweigen, sie sann unter dieser Zeit wohl auf Mittel, ihren Zustand stets verbergen zu können, da sie aber keine fand, so verschob sie die fürchterliche Entdeckung von einer Zeit zur andern, und suchte nur immer noch einen Tag zu gewinnen, an welchem sie schuldlos und ohne kränkenden Vorwurf vor den Augen der Dienstbo- ten umher wandeln konnte. Sie hatte Wilhelmen auf seine dringende Bitte gelobt, daß sie nicht Hand an sich und ihr Schmerzenskind legen wol- le, sie beschloß den Schwur zu halten, aber sie hofte, daß die Geburt des ärmsten ihr Tod wer- den sollte, und zögerte daher stets noch länger, ihn durch vorher genoßne und gefühlte Schande zu verbittern.
Indeß sie oft einsam mit sich kämpfte, sich die rührenden Worte: Vater und Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich auf! zu ihrem Leichentext wählte, und schwarze Schlei- fen band, die ihr Sterbekleid zieren sollten, sprach schon das ganze Dorf von ihrem unglücklichen Zu- stande. Jede Hausfrau muthmaßte ihn schon lan- ge, jeder war er schon zur Gewißheit geworden; ihre Taille, die sonst eine der schönsten war, hatte sich zu sehr verändert, sie mußte dem geüb-
zen uͤber dieſe unerwartete Nachricht, leblos vom Stuhle ſinken, ſie hoͤrte, wie er ſtammelnd ihr fluchte, und Rache flehend verſchied. Dieſe noch graͤßlichere Vorſtellungen bewogen ſie immer zu laͤngerm Stillſchweigen, ſie ſann unter dieſer Zeit wohl auf Mittel, ihren Zuſtand ſtets verbergen zu koͤnnen, da ſie aber keine fand, ſo verſchob ſie die fuͤrchterliche Entdeckung von einer Zeit zur andern, und ſuchte nur immer noch einen Tag zu gewinnen, an welchem ſie ſchuldlos und ohne kraͤnkenden Vorwurf vor den Augen der Dienſtbo- ten umher wandeln konnte. Sie hatte Wilhelmen auf ſeine dringende Bitte gelobt, daß ſie nicht Hand an ſich und ihr Schmerzenskind legen wol- le, ſie beſchloß den Schwur zu halten, aber ſie hofte, daß die Geburt des aͤrmſten ihr Tod wer- den ſollte, und zoͤgerte daher ſtets noch laͤnger, ihn durch vorher genoßne und gefuͤhlte Schande zu verbittern.
Indeß ſie oft einſam mit ſich kaͤmpfte, ſich die ruͤhrenden Worte: Vater und Mutter haben mich verlaſſen, aber der Herr nimmt mich auf! zu ihrem Leichentext waͤhlte, und ſchwarze Schlei- fen band, die ihr Sterbekleid zieren ſollten, ſprach ſchon das ganze Dorf von ihrem ungluͤcklichen Zu- ſtande. Jede Hausfrau muthmaßte ihn ſchon lan- ge, jeder war er ſchon zur Gewißheit geworden; ihre Taille, die ſonſt eine der ſchoͤnſten war, hatte ſich zu ſehr veraͤndert, ſie mußte dem geuͤb-
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zen uͤber dieſe unerwartete Nachricht, leblos vom
Stuhle ſinken, ſie hoͤrte, wie er ſtammelnd ihr
fluchte, und Rache flehend verſchied. Dieſe noch
graͤßlichere Vorſtellungen bewogen ſie immer zu
laͤngerm Stillſchweigen, ſie ſann unter dieſer Zeit
wohl auf Mittel, ihren Zuſtand ſtets verbergen
zu koͤnnen, da ſie aber keine fand, ſo verſchob ſie
die fuͤrchterliche Entdeckung von einer Zeit zur
andern, und ſuchte nur immer noch einen Tag zu
gewinnen, an welchem ſie ſchuldlos und ohne
kraͤnkenden Vorwurf vor den Augen der Dienſtbo-
ten umher wandeln konnte. Sie hatte Wilhelmen
auf ſeine dringende Bitte gelobt, daß ſie nicht
Hand an ſich und ihr Schmerzenskind legen wol-
le, ſie beſchloß den Schwur zu halten, aber ſie
hofte, daß die Geburt des aͤrmſten ihr Tod wer-
den ſollte, und zoͤgerte daher ſtets noch laͤnger,
ihn durch vorher genoßne und gefuͤhlte Schande
zu verbittern.
Indeß ſie oft einſam mit ſich kaͤmpfte, ſich
die ruͤhrenden Worte: Vater und Mutter haben
mich verlaſſen, aber der Herr nimmt mich auf!
zu ihrem Leichentext waͤhlte, und ſchwarze Schlei-
fen band, die ihr Sterbekleid zieren ſollten, ſprach
ſchon das ganze Dorf von ihrem ungluͤcklichen Zu-
ſtande. Jede Hausfrau muthmaßte ihn ſchon lan-
ge, jeder war er ſchon zur Gewißheit geworden;
ihre Taille, die ſonſt eine der ſchoͤnſten war,
hatte ſich zu ſehr veraͤndert, ſie mußte dem geuͤb-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/82>, abgerufen am 16.02.2025.
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