unschuldigen Mädchens. Wilhelm hofte mit dem Frieden auch seine Entlassung zu erhalten, der Schulmeister des Orts war äußerst alt, er brauch- te höchst nöthig einen Substituten, Wilhelm woll- te dieser werden. Er hatte Gründe zu dieser Hof- nung, denn die ganze Gemeinde, welche diesen Dienst zu vergeben hatte, liebte ihn, und versi- cherte ihm solchen oft im voraus, wenn er Sonn- tags anstatt des kranken Schulmeisters recht an- genehm auf der Orgel präludirte, und mit melo- discher Stimme das Lied begann. Er wollte dann sogleich sein Lottchen heirathen, und konnte dies ebenfalls mit Grunde hoffen, weil der alte, lieb- reiche Vater oft im Scherze zu ihm sagte: wenn Sie beim nahen Frieden hier Substitut meines alten Schulmeisters werden wollen, so gebe ich Ihnen mein Lottchen zur Frau. So lange der Alte lebt, habt ihr die Kost bei mir, und stirbt er einst, so ist sein Dienst im Stande, euch wohl zu ernähren, denn er steht sich besser als mancher Pfarrer im Gebirge!
Daß die Liebenden ihre Hofnung nicht auf Scheingründe bauten, habe ich deutlich erwiesen, daß diese angenehme Aussicht sich bei der günsti- gen Wendung noch Jahrelang verzögern könne, liegt freilich eben so klar am Tage aber wer kann im Sturme, im Drange der heftigsten Lei- denschaft immer kalt überlegen? Wer kann in
unſchuldigen Maͤdchens. Wilhelm hofte mit dem Frieden auch ſeine Entlaſſung zu erhalten, der Schulmeiſter des Orts war aͤußerſt alt, er brauch- te hoͤchſt noͤthig einen Subſtituten, Wilhelm woll- te dieſer werden. Er hatte Gruͤnde zu dieſer Hof- nung, denn die ganze Gemeinde, welche dieſen Dienſt zu vergeben hatte, liebte ihn, und verſi- cherte ihm ſolchen oft im voraus, wenn er Sonn- tags anſtatt des kranken Schulmeiſters recht an- genehm auf der Orgel praͤludirte, und mit melo- diſcher Stimme das Lied begann. Er wollte dann ſogleich ſein Lottchen heirathen, und konnte dies ebenfalls mit Grunde hoffen, weil der alte, lieb- reiche Vater oft im Scherze zu ihm ſagte: wenn Sie beim nahen Frieden hier Subſtitut meines alten Schulmeiſters werden wollen, ſo gebe ich Ihnen mein Lottchen zur Frau. So lange der Alte lebt, habt ihr die Koſt bei mir, und ſtirbt er einſt, ſo iſt ſein Dienſt im Stande, euch wohl zu ernaͤhren, denn er ſteht ſich beſſer als mancher Pfarrer im Gebirge!
Daß die Liebenden ihre Hofnung nicht auf Scheingruͤnde bauten, habe ich deutlich erwieſen, daß dieſe angenehme Ausſicht ſich bei der guͤnſti- gen Wendung noch Jahrelang verzoͤgern koͤnne, liegt freilich eben ſo klar am Tage aber wer kann im Sturme, im Drange der heftigſten Lei- denſchaft immer kalt uͤberlegen? Wer kann in
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0076"n="62"/>
unſchuldigen Maͤdchens. Wilhelm hofte mit dem<lb/>
Frieden auch ſeine Entlaſſung zu erhalten, der<lb/>
Schulmeiſter des Orts war aͤußerſt alt, er brauch-<lb/>
te hoͤchſt noͤthig einen Subſtituten, Wilhelm woll-<lb/>
te dieſer werden. Er hatte Gruͤnde zu dieſer Hof-<lb/>
nung, denn die ganze Gemeinde, welche dieſen<lb/>
Dienſt zu vergeben hatte, liebte ihn, und verſi-<lb/>
cherte ihm ſolchen oft im voraus, wenn er Sonn-<lb/>
tags anſtatt des kranken Schulmeiſters recht an-<lb/>
genehm auf der Orgel praͤludirte, und mit melo-<lb/>
diſcher Stimme das Lied begann. Er wollte dann<lb/>ſogleich ſein Lottchen heirathen, und konnte dies<lb/>
ebenfalls mit Grunde hoffen, weil der alte, lieb-<lb/>
reiche Vater oft im Scherze zu ihm ſagte: wenn<lb/>
Sie beim nahen Frieden hier Subſtitut meines<lb/>
alten Schulmeiſters werden wollen, ſo gebe ich<lb/>
Ihnen mein Lottchen zur Frau. So lange der<lb/>
Alte lebt, habt ihr die Koſt bei mir, und ſtirbt<lb/>
er einſt, ſo iſt ſein Dienſt im Stande, euch wohl<lb/>
zu ernaͤhren, denn er ſteht ſich beſſer als mancher<lb/>
Pfarrer im Gebirge!</p><lb/><p>Daß die Liebenden ihre Hofnung nicht auf<lb/>
Scheingruͤnde bauten, habe ich deutlich erwieſen,<lb/>
daß dieſe angenehme Ausſicht ſich bei der guͤnſti-<lb/>
gen Wendung noch Jahrelang verzoͤgern koͤnne,<lb/>
liegt freilich eben ſo klar am Tage aber wer<lb/>
kann im Sturme, im Drange der heftigſten Lei-<lb/>
denſchaft immer kalt uͤberlegen? Wer kann in<lb/></p></div></body></text></TEI>
[62/0076]
unſchuldigen Maͤdchens. Wilhelm hofte mit dem
Frieden auch ſeine Entlaſſung zu erhalten, der
Schulmeiſter des Orts war aͤußerſt alt, er brauch-
te hoͤchſt noͤthig einen Subſtituten, Wilhelm woll-
te dieſer werden. Er hatte Gruͤnde zu dieſer Hof-
nung, denn die ganze Gemeinde, welche dieſen
Dienſt zu vergeben hatte, liebte ihn, und verſi-
cherte ihm ſolchen oft im voraus, wenn er Sonn-
tags anſtatt des kranken Schulmeiſters recht an-
genehm auf der Orgel praͤludirte, und mit melo-
diſcher Stimme das Lied begann. Er wollte dann
ſogleich ſein Lottchen heirathen, und konnte dies
ebenfalls mit Grunde hoffen, weil der alte, lieb-
reiche Vater oft im Scherze zu ihm ſagte: wenn
Sie beim nahen Frieden hier Subſtitut meines
alten Schulmeiſters werden wollen, ſo gebe ich
Ihnen mein Lottchen zur Frau. So lange der
Alte lebt, habt ihr die Koſt bei mir, und ſtirbt
er einſt, ſo iſt ſein Dienſt im Stande, euch wohl
zu ernaͤhren, denn er ſteht ſich beſſer als mancher
Pfarrer im Gebirge!
Daß die Liebenden ihre Hofnung nicht auf
Scheingruͤnde bauten, habe ich deutlich erwieſen,
daß dieſe angenehme Ausſicht ſich bei der guͤnſti-
gen Wendung noch Jahrelang verzoͤgern koͤnne,
liegt freilich eben ſo klar am Tage aber wer
kann im Sturme, im Drange der heftigſten Lei-
denſchaft immer kalt uͤberlegen? Wer kann in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/76>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.