Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.aber sie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge- Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab- aber ſie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge- Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0040" n="26"/> aber ſie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge-<lb/> meſſenen Schritten immer auf und nieder, laͤchelt<lb/> links und rechts, und bleibt oft ſtundenlang vor<lb/> einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen<lb/> ſtehen. Ihr Auge wird dann aͤußerſt beredt, es<lb/> ſcheint mit der Statue zu ſprechen. Man kann,<lb/> wie ich ſpaͤter ſelbſt beobachtete, deutlich ſehen,<lb/> wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft<lb/> ſcheint ſie mit ſehnſuchtsvollem Blicke einer Ant-<lb/> wort entgegen zu harren, und wenn dieſe ihrer<lb/> Phantaſie gemaͤß endlich erfolgt, ſo dankt ihr Au-<lb/> ge mit einem Ausdrucke, der ſich um ſo weniger<lb/> beſchreiben laͤßt, weil die uͤbrigen Theile des Ge-<lb/> ſichts gar keinen Antheil daran zu nehmen ſchei-<lb/> nen, und bei dem Geſpraͤche ihrer Augen ganz<lb/> gleichguͤltig bleiben.</p><lb/> <p>Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab-<lb/> ſchied von Mutter und Tochter; daß ich gab,<lb/> was ich vermochte, und dann erſt ſchied, brauche<lb/> ich wohl nicht weiter zu erwaͤhnen; ich konnte,<lb/> ich wollte der Ungluͤcklichen nicht nach der Stadt<lb/> folgen, meine Seele war truͤb und duͤſter, mein<lb/> Herz traurig, ich ſuchte mich im Anſchauen der<lb/> ſchoͤnen Natur zu zerſtreuen; aber es gelang nicht.<lb/> Der Nebel war verſchwunden, heiter ſtand die<lb/> Sonne am Himmel, ſchoͤn bluͤthen die Baͤume,<lb/> melodiſch ſangen die Voͤgel, aber mein Herz blieb<lb/> traurig, es haderte mit dem Ungluͤcke, das in ſo<lb/> mancherlei Geſtalten hinter dem Menſchen einher<lb/> wandert, und ihn oft ſchrecklich mißhandelt. — —<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [26/0040]
aber ſie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge-
meſſenen Schritten immer auf und nieder, laͤchelt
links und rechts, und bleibt oft ſtundenlang vor
einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen
ſtehen. Ihr Auge wird dann aͤußerſt beredt, es
ſcheint mit der Statue zu ſprechen. Man kann,
wie ich ſpaͤter ſelbſt beobachtete, deutlich ſehen,
wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft
ſcheint ſie mit ſehnſuchtsvollem Blicke einer Ant-
wort entgegen zu harren, und wenn dieſe ihrer
Phantaſie gemaͤß endlich erfolgt, ſo dankt ihr Au-
ge mit einem Ausdrucke, der ſich um ſo weniger
beſchreiben laͤßt, weil die uͤbrigen Theile des Ge-
ſichts gar keinen Antheil daran zu nehmen ſchei-
nen, und bei dem Geſpraͤche ihrer Augen ganz
gleichguͤltig bleiben.
Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab-
ſchied von Mutter und Tochter; daß ich gab,
was ich vermochte, und dann erſt ſchied, brauche
ich wohl nicht weiter zu erwaͤhnen; ich konnte,
ich wollte der Ungluͤcklichen nicht nach der Stadt
folgen, meine Seele war truͤb und duͤſter, mein
Herz traurig, ich ſuchte mich im Anſchauen der
ſchoͤnen Natur zu zerſtreuen; aber es gelang nicht.
Der Nebel war verſchwunden, heiter ſtand die
Sonne am Himmel, ſchoͤn bluͤthen die Baͤume,
melodiſch ſangen die Voͤgel, aber mein Herz blieb
traurig, es haderte mit dem Ungluͤcke, das in ſo
mancherlei Geſtalten hinter dem Menſchen einher
wandert, und ihn oft ſchrecklich mißhandelt. — —
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |