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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

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Bewohner des Dorfs, und jeder wird Ihnen das
nämliche erzählen.

Ich. Wer ist denn also die wunderbare Alte,
welche so vortreflich Erwartung zu erregen ver-
steht?

Pfarrer. Das weis ich nicht, das weis
niemand.

Ich. Immer wunderbarer, immer abentheu-
erlicher!

Pfarrer. Vor ungefähr sechs Jahren fand
sie unser menschenfreundlicher Abt auf einem ein-
samen Spaziergange. Sie sas an einem Bache,
hatte ihren Haubenstock im Arme, und bemühte
sich, ihm durch ein kleines Glas, Wasser in den
Mund zu schütten. Da der Abt sogleich Wahn-
sinn argwohnte, durch ihre sonderbare Gebärden
noch mehr davon überzeugt wurde, so wollte er
sie nicht dem blinden Ungefähre überlassen, und
hielt es für Pflicht, für ihren Unterhalt Sorge zu
tragen. Er führte sie nach dem Kloster, und
übergab sie der Aufsicht einer tugendsamen Ma-
trone. Sie sprach drei Monate kein Wort, und
man fieng schon an, sie für wirklich stumm zu
halten, bis sie einst den Abt in seiner Kutsche
vorbei fahren sah. Sie rief sogleich erschrocken
aus: das ist mein Onkel! das ist mein Onkel!
und erzählte nun allen Anwesenden, ohne die
Spur eines Wahnsinnes zu verrathen, die ganze
Geschichte, welche sie Ihnen wahrscheinlich auch
erzählt hat. Da diese Geschichte bei vielen, wel-
che sie hörten, falsches Licht über die Familie,

Bewohner des Dorfs, und jeder wird Ihnen das
naͤmliche erzaͤhlen.

Ich. Wer iſt denn alſo die wunderbare Alte,
welche ſo vortreflich Erwartung zu erregen ver-
ſteht?

Pfarrer. Das weis ich nicht, das weis
niemand.

Ich. Immer wunderbarer, immer abentheu-
erlicher!

Pfarrer. Vor ungefaͤhr ſechs Jahren fand
ſie unſer menſchenfreundlicher Abt auf einem ein-
ſamen Spaziergange. Sie ſas an einem Bache,
hatte ihren Haubenſtock im Arme, und bemuͤhte
ſich, ihm durch ein kleines Glas, Waſſer in den
Mund zu ſchuͤtten. Da der Abt ſogleich Wahn-
ſinn argwohnte, durch ihre ſonderbare Gebaͤrden
noch mehr davon uͤberzeugt wurde, ſo wollte er
ſie nicht dem blinden Ungefaͤhre uͤberlaſſen, und
hielt es fuͤr Pflicht, fuͤr ihren Unterhalt Sorge zu
tragen. Er fuͤhrte ſie nach dem Kloſter, und
uͤbergab ſie der Aufſicht einer tugendſamen Ma-
trone. Sie ſprach drei Monate kein Wort, und
man fieng ſchon an, ſie fuͤr wirklich ſtumm zu
halten, bis ſie einſt den Abt in ſeiner Kutſche
vorbei fahren ſah. Sie rief ſogleich erſchrocken
aus: das iſt mein Onkel! das iſt mein Onkel!
und erzaͤhlte nun allen Anweſenden, ohne die
Spur eines Wahnſinnes zu verrathen, die ganze
Geſchichte, welche ſie Ihnen wahrſcheinlich auch
erzaͤhlt hat. Da dieſe Geſchichte bei vielen, wel-
che ſie hoͤrten, falſches Licht uͤber die Familie,

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[204/0218] Bewohner des Dorfs, und jeder wird Ihnen das naͤmliche erzaͤhlen. Ich. Wer iſt denn alſo die wunderbare Alte, welche ſo vortreflich Erwartung zu erregen ver- ſteht? Pfarrer. Das weis ich nicht, das weis niemand. Ich. Immer wunderbarer, immer abentheu- erlicher! Pfarrer. Vor ungefaͤhr ſechs Jahren fand ſie unſer menſchenfreundlicher Abt auf einem ein- ſamen Spaziergange. Sie ſas an einem Bache, hatte ihren Haubenſtock im Arme, und bemuͤhte ſich, ihm durch ein kleines Glas, Waſſer in den Mund zu ſchuͤtten. Da der Abt ſogleich Wahn- ſinn argwohnte, durch ihre ſonderbare Gebaͤrden noch mehr davon uͤberzeugt wurde, ſo wollte er ſie nicht dem blinden Ungefaͤhre uͤberlaſſen, und hielt es fuͤr Pflicht, fuͤr ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Er fuͤhrte ſie nach dem Kloſter, und uͤbergab ſie der Aufſicht einer tugendſamen Ma- trone. Sie ſprach drei Monate kein Wort, und man fieng ſchon an, ſie fuͤr wirklich ſtumm zu halten, bis ſie einſt den Abt in ſeiner Kutſche vorbei fahren ſah. Sie rief ſogleich erſchrocken aus: das iſt mein Onkel! das iſt mein Onkel! und erzaͤhlte nun allen Anweſenden, ohne die Spur eines Wahnſinnes zu verrathen, die ganze Geſchichte, welche ſie Ihnen wahrſcheinlich auch erzaͤhlt hat. Da dieſe Geſchichte bei vielen, wel- che ſie hoͤrten, falſches Licht uͤber die Familie,

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/218>, abgerufen am 21.11.2024.