Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

größter Einsicht bis an seinen Tod, ob er gleich
nie die Stube verließ, nie von seinem Wahnsinne
befreit wurde. Er kannte noch von ehedem jeden
Acker, jede Wiese, er unterrichtete die Knechte
genau, wie sie jenen pflügen, und diese behan-
deln sollten, und er fehlte in seinem Urtheile nie.
Dieser oder jener Acker, sagte er oft zu den
Knechten, muß links oder rechts von fruchtbarer
Erde entblößt seyn, ihr müßt ihn aufs neue über-
führen. Auf der obern Wiese werden sich sum-
pfichte Flecke äußern, ihr müßt sie ableiten. Die
Knechte erstaunten, wenn sie alles so fanden,
und konnten nicht begreifen, wie ihr Herr, der
doch nie die Stube verließ, so etwas wissen kön-
ne. Er kannte alle Kühe, er wußte genau: ob
sie wenig, oder viel Milch gaben? Und er sah
sie doch nie, außer wenn sie im Frühjahre auf
die Alpen, und im Herbste wieder zurück vor sei-
nem Fenster vorbei getrieben wurden. Er wählte
dann immer diejenigen aus, welche den Winter
über sollten gemästet werden, er schrieb ihnen das
Futter vor, und verkaufte sie am Ende, ohne sie
je mehr gesehen zu haben. Er sagte dann immer
allemal dem Käufer: wie viel die Kuh Fleisch und
Inslicht haben müsse, und betrog sich in seinem
Urtheile selten um einige Pfund. Er prophezeih-
te mit vieler Richtigkeit die Witterung voraus,
und benutzte diese Einsicht oft zu seinem Vorthei-
le; er wußte es am frühen Morgen schon, wenn
Abends ein Gewitter kommen würde; in diesem

groͤßter Einſicht bis an ſeinen Tod, ob er gleich
nie die Stube verließ, nie von ſeinem Wahnſinne
befreit wurde. Er kannte noch von ehedem jeden
Acker, jede Wieſe, er unterrichtete die Knechte
genau, wie ſie jenen pfluͤgen, und dieſe behan-
deln ſollten, und er fehlte in ſeinem Urtheile nie.
Dieſer oder jener Acker, ſagte er oft zu den
Knechten, muß links oder rechts von fruchtbarer
Erde entbloͤßt ſeyn, ihr muͤßt ihn aufs neue uͤber-
fuͤhren. Auf der obern Wieſe werden ſich ſum-
pfichte Flecke aͤußern, ihr muͤßt ſie ableiten. Die
Knechte erſtaunten, wenn ſie alles ſo fanden,
und konnten nicht begreifen, wie ihr Herr, der
doch nie die Stube verließ, ſo etwas wiſſen koͤn-
ne. Er kannte alle Kuͤhe, er wußte genau: ob
ſie wenig, oder viel Milch gaben? Und er ſah
ſie doch nie, außer wenn ſie im Fruͤhjahre auf
die Alpen, und im Herbſte wieder zuruͤck vor ſei-
nem Fenſter vorbei getrieben wurden. Er waͤhlte
dann immer diejenigen aus, welche den Winter
uͤber ſollten gemaͤſtet werden, er ſchrieb ihnen das
Futter vor, und verkaufte ſie am Ende, ohne ſie
je mehr geſehen zu haben. Er ſagte dann immer
allemal dem Kaͤufer: wie viel die Kuh Fleiſch und
Inslicht haben muͤſſe, und betrog ſich in ſeinem
Urtheile ſelten um einige Pfund. Er prophezeih-
te mit vieler Richtigkeit die Witterung voraus,
und benutzte dieſe Einſicht oft zu ſeinem Vorthei-
le; er wußte es am fruͤhen Morgen ſchon, wenn
Abends ein Gewitter kommen wuͤrde; in dieſem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0133" n="119"/>
gro&#x0364;ßter Ein&#x017F;icht bis                     an &#x017F;einen Tod, ob er gleich<lb/>
nie die Stube verließ, nie von &#x017F;einem                     Wahn&#x017F;inne<lb/>
befreit wurde. Er kannte noch von ehedem jeden<lb/>
Acker, jede                     Wie&#x017F;e, er unterrichtete die Knechte<lb/>
genau, wie &#x017F;ie jenen pflu&#x0364;gen, und die&#x017F;e                     behan-<lb/>
deln &#x017F;ollten, und er fehlte in &#x017F;einem Urtheile nie.<lb/>
Die&#x017F;er oder                     jener Acker, &#x017F;agte er oft zu den<lb/>
Knechten, muß links oder rechts von                     fruchtbarer<lb/>
Erde entblo&#x0364;ßt &#x017F;eyn, ihr mu&#x0364;ßt ihn aufs neue u&#x0364;ber-<lb/>
fu&#x0364;hren.                     Auf der obern Wie&#x017F;e werden &#x017F;ich &#x017F;um-<lb/>
pfichte Flecke a&#x0364;ußern, ihr mu&#x0364;ßt &#x017F;ie                     ableiten. Die<lb/>
Knechte er&#x017F;taunten, wenn &#x017F;ie alles &#x017F;o fanden,<lb/>
und konnten                     nicht begreifen, wie ihr Herr, der<lb/>
doch nie die Stube verließ, &#x017F;o etwas                     wi&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;n-<lb/>
ne. Er kannte alle Ku&#x0364;he, er wußte genau: ob<lb/>
&#x017F;ie wenig,                     oder viel Milch gaben? Und er &#x017F;ah<lb/>
&#x017F;ie doch nie, außer wenn &#x017F;ie im Fru&#x0364;hjahre                     auf<lb/>
die Alpen, und im Herb&#x017F;te wieder zuru&#x0364;ck vor &#x017F;ei-<lb/>
nem Fen&#x017F;ter vorbei                     getrieben wurden. Er wa&#x0364;hlte<lb/>
dann immer diejenigen aus, welche den                     Winter<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ollten gema&#x0364;&#x017F;tet werden, er &#x017F;chrieb ihnen das<lb/>
Futter vor,                     und verkaufte &#x017F;ie am Ende, ohne &#x017F;ie<lb/>
je mehr ge&#x017F;ehen zu haben. Er &#x017F;agte dann                     immer<lb/>
allemal dem Ka&#x0364;ufer: wie viel die Kuh Flei&#x017F;ch und<lb/>
Inslicht haben                     mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, und betrog &#x017F;ich in &#x017F;einem<lb/>
Urtheile &#x017F;elten um einige Pfund. Er                     prophezeih-<lb/>
te mit vieler Richtigkeit die Witterung voraus,<lb/>
und benutzte                     die&#x017F;e Ein&#x017F;icht oft zu &#x017F;einem Vorthei-<lb/>
le; er wußte es am fru&#x0364;hen Morgen                     &#x017F;chon, wenn<lb/>
Abends ein Gewitter kommen wu&#x0364;rde; in die&#x017F;em<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0133] groͤßter Einſicht bis an ſeinen Tod, ob er gleich nie die Stube verließ, nie von ſeinem Wahnſinne befreit wurde. Er kannte noch von ehedem jeden Acker, jede Wieſe, er unterrichtete die Knechte genau, wie ſie jenen pfluͤgen, und dieſe behan- deln ſollten, und er fehlte in ſeinem Urtheile nie. Dieſer oder jener Acker, ſagte er oft zu den Knechten, muß links oder rechts von fruchtbarer Erde entbloͤßt ſeyn, ihr muͤßt ihn aufs neue uͤber- fuͤhren. Auf der obern Wieſe werden ſich ſum- pfichte Flecke aͤußern, ihr muͤßt ſie ableiten. Die Knechte erſtaunten, wenn ſie alles ſo fanden, und konnten nicht begreifen, wie ihr Herr, der doch nie die Stube verließ, ſo etwas wiſſen koͤn- ne. Er kannte alle Kuͤhe, er wußte genau: ob ſie wenig, oder viel Milch gaben? Und er ſah ſie doch nie, außer wenn ſie im Fruͤhjahre auf die Alpen, und im Herbſte wieder zuruͤck vor ſei- nem Fenſter vorbei getrieben wurden. Er waͤhlte dann immer diejenigen aus, welche den Winter uͤber ſollten gemaͤſtet werden, er ſchrieb ihnen das Futter vor, und verkaufte ſie am Ende, ohne ſie je mehr geſehen zu haben. Er ſagte dann immer allemal dem Kaͤufer: wie viel die Kuh Fleiſch und Inslicht haben muͤſſe, und betrog ſich in ſeinem Urtheile ſelten um einige Pfund. Er prophezeih- te mit vieler Richtigkeit die Witterung voraus, und benutzte dieſe Einſicht oft zu ſeinem Vorthei- le; er wußte es am fruͤhen Morgen ſchon, wenn Abends ein Gewitter kommen wuͤrde; in dieſem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/133
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/133>, abgerufen am 18.12.2024.