Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Was fehlt dir denn schon wieder? sprach der
Bruder im nicht ganz brüderlichen Tone. Ich
seh's schon, fuhr er fort, du denkst noch immer
an deine Marie, und diese mußt du dir, wenn
wir anders Brüder bleiben sollen, ganz aus dem
Sinne schlagen! -- Kaum hatte der unbesonnene
Bruder diese Worte ausgesprochen, so sprang Ja-
kob verzweiflungsvoll auf, und riß das wohlthä-
tige Pflaster von seiner Brust. Nun, rief er aus,
bin ich vollkommen überzeugt, daß dies Mittel
auch nicht mehr wirkt, ich bin auf immer unglück-
lich, jedermann wird in mein Herz sehen, und
meine Gedanken lesen können.

Von dieser Zeit an schien alle Hülfe verge-
bens, und jede Hofnung, daß es sich wieder
mit ihm bessern könne, auf immer verlohren.
Der Wundarzt konnte ihm in jedem Falle nichts
mehr nützen, weil er alle Arzenei verschmähte,
sich vor jedem Fremden sorgfältig versteckte, und
nie die Stube mehr verließ. Er gedachte in der
Folge seiner Marie äusserst selten, und vergaß sie
bald ganz; sie ist jetzt mit einem reichen Bauer
verheurathet, dessen Wirthschaft sie einige Jahre
hindurch sehr gut führte, und der ihr endlich zum
Lohne seine Hand reichte. Durch volle vier Jahre
war Jakob zu allem unfähig, er stack stets im
dunkelsten Winkel der Stube, sein Bruder, wel-
cher an seiner Stelle den gepachteten Hof besorgte,
konnte ihn zu gar nichts brauchen, und da jener

Was fehlt dir denn ſchon wieder? ſprach der
Bruder im nicht ganz bruͤderlichen Tone. Ich
ſeh's ſchon, fuhr er fort, du denkſt noch immer
an deine Marie, und dieſe mußt du dir, wenn
wir anders Bruͤder bleiben ſollen, ganz aus dem
Sinne ſchlagen! — Kaum hatte der unbeſonnene
Bruder dieſe Worte ausgeſprochen, ſo ſprang Ja-
kob verzweiflungsvoll auf, und riß das wohlthaͤ-
tige Pflaſter von ſeiner Bruſt. Nun, rief er aus,
bin ich vollkommen uͤberzeugt, daß dies Mittel
auch nicht mehr wirkt, ich bin auf immer ungluͤck-
lich, jedermann wird in mein Herz ſehen, und
meine Gedanken leſen koͤnnen.

Von dieſer Zeit an ſchien alle Huͤlfe verge-
bens, und jede Hofnung, daß es ſich wieder
mit ihm beſſern koͤnne, auf immer verlohren.
Der Wundarzt konnte ihm in jedem Falle nichts
mehr nuͤtzen, weil er alle Arzenei verſchmaͤhte,
ſich vor jedem Fremden ſorgfaͤltig verſteckte, und
nie die Stube mehr verließ. Er gedachte in der
Folge ſeiner Marie aͤuſſerſt ſelten, und vergaß ſie
bald ganz; ſie iſt jetzt mit einem reichen Bauer
verheurathet, deſſen Wirthſchaft ſie einige Jahre
hindurch ſehr gut fuͤhrte, und der ihr endlich zum
Lohne ſeine Hand reichte. Durch volle vier Jahre
war Jakob zu allem unfaͤhig, er ſtack ſtets im
dunkelſten Winkel der Stube, ſein Bruder, wel-
cher an ſeiner Stelle den gepachteten Hof beſorgte,
konnte ihn zu gar nichts brauchen, und da jener

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0131" n="117"/>
Was fehlt dir denn &#x017F;chon wieder?                     &#x017F;prach der<lb/>
Bruder im nicht ganz bru&#x0364;derlichen Tone. Ich<lb/>
&#x017F;eh's &#x017F;chon,                     fuhr er fort, du denk&#x017F;t noch immer<lb/>
an deine Marie, und die&#x017F;e mußt du dir,                     wenn<lb/>
wir anders Bru&#x0364;der bleiben &#x017F;ollen, ganz aus dem<lb/>
Sinne &#x017F;chlagen! &#x2014;                     Kaum hatte der unbe&#x017F;onnene<lb/>
Bruder die&#x017F;e Worte ausge&#x017F;prochen, &#x017F;o &#x017F;prang                     Ja-<lb/>
kob verzweiflungsvoll auf, und riß das wohltha&#x0364;-<lb/>
tige Pfla&#x017F;ter von                     &#x017F;einer Bru&#x017F;t. Nun, rief er aus,<lb/>
bin ich vollkommen u&#x0364;berzeugt, daß dies                     Mittel<lb/>
auch nicht mehr wirkt, ich bin auf immer unglu&#x0364;ck-<lb/>
lich,                     jedermann wird in mein Herz &#x017F;ehen, und<lb/>
meine Gedanken le&#x017F;en ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>Von die&#x017F;er Zeit an &#x017F;chien alle Hu&#x0364;lfe verge-<lb/>
bens, und jede Hofnung, daß es                     &#x017F;ich wieder<lb/>
mit ihm be&#x017F;&#x017F;ern ko&#x0364;nne, auf immer verlohren.<lb/>
Der Wundarzt                     konnte ihm in jedem Falle nichts<lb/>
mehr nu&#x0364;tzen, weil er alle Arzenei                     ver&#x017F;chma&#x0364;hte,<lb/>
&#x017F;ich vor jedem Fremden &#x017F;orgfa&#x0364;ltig ver&#x017F;teckte, und<lb/>
nie die                     Stube mehr verließ. Er gedachte in der<lb/>
Folge &#x017F;einer Marie a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;t &#x017F;elten,                     und vergaß &#x017F;ie<lb/>
bald ganz; &#x017F;ie i&#x017F;t jetzt mit einem reichen                     Bauer<lb/>
verheurathet, de&#x017F;&#x017F;en Wirth&#x017F;chaft &#x017F;ie einige Jahre<lb/>
hindurch &#x017F;ehr                     gut fu&#x0364;hrte, und der ihr endlich zum<lb/>
Lohne &#x017F;eine Hand reichte. Durch volle                     vier Jahre<lb/>
war Jakob zu allem unfa&#x0364;hig, er &#x017F;tack &#x017F;tets im<lb/>
dunkel&#x017F;ten                     Winkel der Stube, &#x017F;ein Bruder, wel-<lb/>
cher an &#x017F;einer Stelle den gepachteten                     Hof be&#x017F;orgte,<lb/>
konnte ihn zu gar nichts brauchen, und da jener<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0131] Was fehlt dir denn ſchon wieder? ſprach der Bruder im nicht ganz bruͤderlichen Tone. Ich ſeh's ſchon, fuhr er fort, du denkſt noch immer an deine Marie, und dieſe mußt du dir, wenn wir anders Bruͤder bleiben ſollen, ganz aus dem Sinne ſchlagen! — Kaum hatte der unbeſonnene Bruder dieſe Worte ausgeſprochen, ſo ſprang Ja- kob verzweiflungsvoll auf, und riß das wohlthaͤ- tige Pflaſter von ſeiner Bruſt. Nun, rief er aus, bin ich vollkommen uͤberzeugt, daß dies Mittel auch nicht mehr wirkt, ich bin auf immer ungluͤck- lich, jedermann wird in mein Herz ſehen, und meine Gedanken leſen koͤnnen. Von dieſer Zeit an ſchien alle Huͤlfe verge- bens, und jede Hofnung, daß es ſich wieder mit ihm beſſern koͤnne, auf immer verlohren. Der Wundarzt konnte ihm in jedem Falle nichts mehr nuͤtzen, weil er alle Arzenei verſchmaͤhte, ſich vor jedem Fremden ſorgfaͤltig verſteckte, und nie die Stube mehr verließ. Er gedachte in der Folge ſeiner Marie aͤuſſerſt ſelten, und vergaß ſie bald ganz; ſie iſt jetzt mit einem reichen Bauer verheurathet, deſſen Wirthſchaft ſie einige Jahre hindurch ſehr gut fuͤhrte, und der ihr endlich zum Lohne ſeine Hand reichte. Durch volle vier Jahre war Jakob zu allem unfaͤhig, er ſtack ſtets im dunkelſten Winkel der Stube, ſein Bruder, wel- cher an ſeiner Stelle den gepachteten Hof beſorgte, konnte ihn zu gar nichts brauchen, und da jener

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/131
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/131>, abgerufen am 29.03.2024.