Hand zu einem Diebeswerkzeug wurde -- was galt es ihr! Sie wollte Gewißheit um jeden Preis! Und hat nicht eine Mutter ein Anrecht auf die Geheim¬ nisse ihrer Tochter? und wenn diese Tochter sich, wie nur zu sehr zu befürchten stand, auf Abwege verirrte, ist es nicht heilige Pflicht der Mutter, sie davon zurückzubringen, selbst durch ein gewaltsames Mittel?
So suchte die Baronin sich das Gehässige ihres Schrittes wegzuraisonniren. Den Menschen fehlt es nie an Beschönigungsgründen für eine Handlung, die sie auf jeden Fall auszuführen entschlossen sind.
Und da saß sie nun auf der steinernen Bank ne¬ ben dem alten Gemäuer unter der Fensternische, in welcher das Vögelchen so lustig zwitscherte und stu¬ dirte den Brief, den unseligen Brief, den sie nun schon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem Baume der Erkenntniß, die sie so freventlich gestohlen, war bitter, sehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie geliebt; jetzt aber haßte sie ihre Tochter . . . Also wirklich! ihr schlimmster Verdacht bestätigt! für alle ihre Güte mit schwarzem Undank belohnt! des Egois¬ mus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen ihren Plänen von diesem Starrkopf durchkreuzt! He¬ lene im besten Einverständniß mit den beiden Verha߬
Hand zu einem Diebeswerkzeug wurde — was galt es ihr! Sie wollte Gewißheit um jeden Preis! Und hat nicht eine Mutter ein Anrecht auf die Geheim¬ niſſe ihrer Tochter? und wenn dieſe Tochter ſich, wie nur zu ſehr zu befürchten ſtand, auf Abwege verirrte, iſt es nicht heilige Pflicht der Mutter, ſie davon zurückzubringen, ſelbſt durch ein gewaltſames Mittel?
So ſuchte die Baronin ſich das Gehäſſige ihres Schrittes wegzuraiſonniren. Den Menſchen fehlt es nie an Beſchönigungsgründen für eine Handlung, die ſie auf jeden Fall auszuführen entſchloſſen ſind.
Und da ſaß ſie nun auf der ſteinernen Bank ne¬ ben dem alten Gemäuer unter der Fenſterniſche, in welcher das Vögelchen ſo luſtig zwitſcherte und ſtu¬ dirte den Brief, den unſeligen Brief, den ſie nun ſchon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem Baume der Erkenntniß, die ſie ſo freventlich geſtohlen, war bitter, ſehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie geliebt; jetzt aber haßte ſie ihre Tochter . . . Alſo wirklich! ihr ſchlimmſter Verdacht beſtätigt! für alle ihre Güte mit ſchwarzem Undank belohnt! des Egois¬ mus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen ihren Plänen von dieſem Starrkopf durchkreuzt! He¬ lene im beſten Einverſtändniß mit den beiden Verha߬
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Hand zu einem Diebeswerkzeug wurde — was galt
es ihr! Sie wollte Gewißheit um jeden Preis! Und
hat nicht eine Mutter ein Anrecht auf die Geheim¬
niſſe ihrer Tochter? und wenn dieſe Tochter ſich,
wie nur zu ſehr zu befürchten ſtand, auf Abwege
verirrte, iſt es nicht heilige Pflicht der Mutter, ſie
davon zurückzubringen, ſelbſt durch ein gewaltſames
Mittel?
So ſuchte die Baronin ſich das Gehäſſige ihres
Schrittes wegzuraiſonniren. Den Menſchen fehlt es
nie an Beſchönigungsgründen für eine Handlung, die
ſie auf jeden Fall auszuführen entſchloſſen ſind.
Und da ſaß ſie nun auf der ſteinernen Bank ne¬
ben dem alten Gemäuer unter der Fenſterniſche, in
welcher das Vögelchen ſo luſtig zwitſcherte und ſtu¬
dirte den Brief, den unſeligen Brief, den ſie nun
ſchon beinahe auswendig wußte. Die Frucht von dem
Baume der Erkenntniß, die ſie ſo freventlich geſtohlen,
war bitter, ſehr bitter. Sie hatte ihre Tochter nie
geliebt; jetzt aber haßte ſie ihre Tochter . . . Alſo
wirklich! ihr ſchlimmſter Verdacht beſtätigt! für alle
ihre Güte mit ſchwarzem Undank belohnt! des Egois¬
mus von ihrem eigenen Kinde angeklagt! in allen
ihren Plänen von dieſem Starrkopf durchkreuzt! He¬
lene im beſten Einverſtändniß mit den beiden Verha߬
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/146>, abgerufen am 22.12.2024.
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