war, als er anstatt eines farbetrunkenen italienischen Gemäldes in einer Nische eine Büste aus keuschem weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem Haarschmuck und ein wenig idealisirt, nichts war, als ein sprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war ihr reiches, welliges Haar, das war ihre schöne zarte Stirn, die feine gerade Nase, das waren die weichen, selbst noch im Marmor thaufrischen Lippen!
Ehe sich Oswald von seinem Erstaunen, der Ge¬ liebten sich so plötzlich gegenüber zu sehen, nur so weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.
"Entschuldigen Sie meine Indiscretion," sagte Oswald, sich schnell fassend; "aber wer heißt Sie auch, verschleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬ stellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬ währen."
"Sie haben Recht," sagte der Baron, ohne eine Spur von Verwirrung; dieser grüne Schleier ist, wie andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬ bei ist es sehr thöricht, die Copie zu verschleiern, da Jedermann das Original unverschleiert sehen kann, wenn er sich die Mühe giebt, nach Palermo zu reisen, und sich eine Erlaubniß verschafft, die Villa Serra di Falco besuchen zu dürfen."
war, als er anſtatt eines farbetrunkenen italieniſchen Gemäldes in einer Niſche eine Büſte aus keuſchem weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem Haarſchmuck und ein wenig idealiſirt, nichts war, als ein ſprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war ihr reiches, welliges Haar, das war ihre ſchöne zarte Stirn, die feine gerade Naſe, das waren die weichen, ſelbſt noch im Marmor thaufriſchen Lippen!
Ehe ſich Oswald von ſeinem Erſtaunen, der Ge¬ liebten ſich ſo plötzlich gegenüber zu ſehen, nur ſo weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.
„Entſchuldigen Sie meine Indiscretion,“ ſagte Oswald, ſich ſchnell faſſend; „aber wer heißt Sie auch, verſchleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬ ſtellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬ währen.“
„Sie haben Recht,“ ſagte der Baron, ohne eine Spur von Verwirrung; dieſer grüne Schleier iſt, wie andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬ bei iſt es ſehr thöricht, die Copie zu verſchleiern, da Jedermann das Original unverſchleiert ſehen kann, wenn er ſich die Mühe giebt, nach Palermo zu reiſen, und ſich eine Erlaubniß verſchafft, die Villa Serra di Falco beſuchen zu dürfen.“
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0051"n="41"/>
war, als er anſtatt eines farbetrunkenen italieniſchen<lb/>
Gemäldes in einer Niſche eine Büſte aus keuſchem<lb/>
weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem<lb/>
Haarſchmuck und ein wenig idealiſirt, nichts war, als<lb/>
ein ſprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war<lb/>
ihr reiches, welliges Haar, das war ihre ſchöne zarte<lb/>
Stirn, die feine gerade Naſe, das waren die weichen,<lb/>ſelbſt noch im Marmor thaufriſchen Lippen!</p><lb/><p>Ehe ſich Oswald von ſeinem Erſtaunen, der Ge¬<lb/>
liebten ſich ſo plötzlich gegenüber zu ſehen, nur ſo<lb/>
weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das<lb/>
Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.</p><lb/><p>„Entſchuldigen Sie meine Indiscretion,“ſagte<lb/>
Oswald, ſich ſchnell faſſend; „aber wer heißt Sie<lb/>
auch, verſchleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬<lb/>ſtellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬<lb/>
währen.“</p><lb/><p>„Sie haben Recht,“ſagte der Baron, ohne eine<lb/>
Spur von Verwirrung; dieſer grüne Schleier iſt, wie<lb/>
andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬<lb/>
bei iſt es ſehr thöricht, die Copie zu verſchleiern, da<lb/>
Jedermann das Original unverſchleiert ſehen kann,<lb/>
wenn er ſich die Mühe giebt, nach Palermo zu reiſen,<lb/>
und ſich eine Erlaubniß verſchafft, die Villa Serra<lb/>
di Falco beſuchen zu dürfen.“<lb/></p></div></body></text></TEI>
[41/0051]
war, als er anſtatt eines farbetrunkenen italieniſchen
Gemäldes in einer Niſche eine Büſte aus keuſchem
weißen Marmor erblickte, die, obgleich in antikem
Haarſchmuck und ein wenig idealiſirt, nichts war, als
ein ſprechend ähnliches Porträt Melitta's. Das war
ihr reiches, welliges Haar, das war ihre ſchöne zarte
Stirn, die feine gerade Naſe, das waren die weichen,
ſelbſt noch im Marmor thaufriſchen Lippen!
Ehe ſich Oswald von ſeinem Erſtaunen, der Ge¬
liebten ſich ſo plötzlich gegenüber zu ſehen, nur ſo
weit erholen konnte, den Vorhang wieder über das
Bild zu ziehen, trat der Baron in das Zimmer.
„Entſchuldigen Sie meine Indiscretion,“ ſagte
Oswald, ſich ſchnell faſſend; „aber wer heißt Sie
auch, verſchleierte Bilder in einem Sanctuarium auf¬
ſtellen, zu dem Sie jedem Fremden den Zutritt ge¬
währen.“
„Sie haben Recht,“ ſagte der Baron, ohne eine
Spur von Verwirrung; dieſer grüne Schleier iſt, wie
andere Schleier auch, geradezu provocirend, und neben¬
bei iſt es ſehr thöricht, die Copie zu verſchleiern, da
Jedermann das Original unverſchleiert ſehen kann,
wenn er ſich die Mühe giebt, nach Palermo zu reiſen,
und ſich eine Erlaubniß verſchafft, die Villa Serra
di Falco beſuchen zu dürfen.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/51>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.