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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861.

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der die Verhältnisse seiner Herrin so genau kannte,
seine besondern, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu
verheimlichen?

Dies waren die schlimmen Gedanken, die durch
Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittags¬
sonnenschein barhaupt an dem Brunnen der Najade
stand und bewegungslos in das Wasser starrte, wäh¬
rend Fräulein Helene an ihrem Schreibtisch Betrach¬
tungen darüber anstellte, ob sie selbst vielleicht die
Ursache dieser Verstimmung sei. Ehe sie indessen dar¬
über zu einem Resultat gekommen war, klopfte es an
ihre Thür. Das junge Mädchen schloß sofort ihre
Schreibmappe und schien ganz in Lamartine's Voyage
en Orient
vertieft, als sich auf ihr Herein! die Thür
öffnete und die Baronin in's Zimmer trat.

"Störe ich Dich, liebe Helene?"

"Durchaus nicht, liebe Mama!" sagte das junge
Mädchen aufstehend und ihrer Mutter entgegengehend.

"Du bliebst heut so außergewöhnlich lange auf
Deinem Zimmer, daß ich doch sehen wollte, was Dich
denn so sehr fesselte. Lamartine's Voyage? nun, ein
recht hübsches Buch, aber ein wenig überspannt, wie
mir scheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man
eine etwas andere Ansicht von dem Leben, und so
auch von den Büchern und den Menschen. Aber ich

der die Verhältniſſe ſeiner Herrin ſo genau kannte,
ſeine beſondern, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu
verheimlichen?

Dies waren die ſchlimmen Gedanken, die durch
Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittags¬
ſonnenſchein barhaupt an dem Brunnen der Najade
ſtand und bewegungslos in das Waſſer ſtarrte, wäh¬
rend Fräulein Helene an ihrem Schreibtiſch Betrach¬
tungen darüber anſtellte, ob ſie ſelbſt vielleicht die
Urſache dieſer Verſtimmung ſei. Ehe ſie indeſſen dar¬
über zu einem Reſultat gekommen war, klopfte es an
ihre Thür. Das junge Mädchen ſchloß ſofort ihre
Schreibmappe und ſchien ganz in Lamartine's Voyage
en Orient
vertieft, als ſich auf ihr Herein! die Thür
öffnete und die Baronin in's Zimmer trat.

„Störe ich Dich, liebe Helene?“

„Durchaus nicht, liebe Mama!“ ſagte das junge
Mädchen aufſtehend und ihrer Mutter entgegengehend.

„Du bliebſt heut ſo außergewöhnlich lange auf
Deinem Zimmer, daß ich doch ſehen wollte, was Dich
denn ſo ſehr feſſelte. Lamartine's Voyage? nun, ein
recht hübſches Buch, aber ein wenig überſpannt, wie
mir ſcheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man
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[206/0216] der die Verhältniſſe ſeiner Herrin ſo genau kannte, ſeine beſondern, gewichtigen Gründe, die Wahrheit zu verheimlichen? Dies waren die ſchlimmen Gedanken, die durch Oswald's Hirn zogen, als er im heißen Nachmittags¬ ſonnenſchein barhaupt an dem Brunnen der Najade ſtand und bewegungslos in das Waſſer ſtarrte, wäh¬ rend Fräulein Helene an ihrem Schreibtiſch Betrach¬ tungen darüber anſtellte, ob ſie ſelbſt vielleicht die Urſache dieſer Verſtimmung ſei. Ehe ſie indeſſen dar¬ über zu einem Reſultat gekommen war, klopfte es an ihre Thür. Das junge Mädchen ſchloß ſofort ihre Schreibmappe und ſchien ganz in Lamartine's Voyage en Orient vertieft, als ſich auf ihr Herein! die Thür öffnete und die Baronin in's Zimmer trat. „Störe ich Dich, liebe Helene?“ „Durchaus nicht, liebe Mama!“ ſagte das junge Mädchen aufſtehend und ihrer Mutter entgegengehend. „Du bliebſt heut ſo außergewöhnlich lange auf Deinem Zimmer, daß ich doch ſehen wollte, was Dich denn ſo ſehr feſſelte. Lamartine's Voyage? nun, ein recht hübſches Buch, aber ein wenig überſpannt, wie mir ſcheint. Freilich, in meinen Jahren bekommt man eine etwas andere Anſicht von dem Leben, und ſo auch von den Büchern und den Menſchen. Aber ich

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/216>, abgerufen am 02.05.2024.