Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die
Schönheit zergliedern? Oswald versuchte es auch
nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im
Leben gesehen habe, nie wieder sehen werde, und es
war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft
geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob
die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬
sucht, nun endlich gefunden sei...

Oswald wollte die Gesellschaft begrüßen, aber es
war, als ob sein Fuß an den Boden gefesselt wäre.
Eine ihm unerklärliche Angst ergriff ihn, ein banges
Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geschehen müsse,
als werde in diesem Augenblick von geheimen Mächten
des Schicksals über das Wohl und Wehe seines Lebens
entschieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort,
in die tiefste Einsamkeit...

Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es
draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreise aus¬
geschieden war und sich dem Hause näherte. Er raffte
sich gewaltsam empor und trat durch die Fensterthür
dem Kommenden entgegen. Sein Erscheinen wurde
natürlich sofort bemerkt und ein allgemeines: ah,
Herr Stein! sieh da, Herr Doctor! bewillkommnete
ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein
paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬

die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die
Schönheit zergliedern? Oswald verſuchte es auch
nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im
Leben geſehen habe, nie wieder ſehen werde, und es
war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft
geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob
die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬
ſucht, nun endlich gefunden ſei...

Oswald wollte die Geſellſchaft begrüßen, aber es
war, als ob ſein Fuß an den Boden gefeſſelt wäre.
Eine ihm unerklärliche Angſt ergriff ihn, ein banges
Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geſchehen müſſe,
als werde in dieſem Augenblick von geheimen Mächten
des Schickſals über das Wohl und Wehe ſeines Lebens
entſchieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort,
in die tiefſte Einſamkeit...

Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es
draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreiſe aus¬
geſchieden war und ſich dem Hauſe näherte. Er raffte
ſich gewaltſam empor und trat durch die Fenſterthür
dem Kommenden entgegen. Sein Erſcheinen wurde
natürlich ſofort bemerkt und ein allgemeines: ah,
Herr Stein! ſieh da, Herr Doctor! bewillkommnete
ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein
paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0135" n="125"/>
die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die<lb/>
Schönheit zergliedern? Oswald ver&#x017F;uchte es auch<lb/>
nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im<lb/>
Leben ge&#x017F;ehen habe, nie wieder &#x017F;ehen werde, und es<lb/>
war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft<lb/>
geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob<lb/>
die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬<lb/>
&#x017F;ucht, nun endlich gefunden &#x017F;ei...</p><lb/>
        <p>Oswald wollte die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft begrüßen, aber es<lb/>
war, als ob &#x017F;ein Fuß an den Boden gefe&#x017F;&#x017F;elt wäre.<lb/>
Eine ihm unerklärliche Ang&#x017F;t ergriff ihn, ein banges<lb/>
Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures ge&#x017F;chehen mü&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
als werde in die&#x017F;em Augenblick von geheimen Mächten<lb/>
des Schick&#x017F;als über das Wohl und Wehe &#x017F;eines Lebens<lb/>
ent&#x017F;chieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort,<lb/>
in die tief&#x017F;te Ein&#x017F;amkeit...</p><lb/>
        <p>Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es<lb/>
draußen zu kühl werden mochte, aus dem Krei&#x017F;e aus¬<lb/>
ge&#x017F;chieden war und &#x017F;ich dem Hau&#x017F;e näherte. Er raffte<lb/>
&#x017F;ich gewalt&#x017F;am empor und trat durch die Fen&#x017F;terthür<lb/>
dem Kommenden entgegen. Sein Er&#x017F;cheinen wurde<lb/>
natürlich &#x017F;ofort bemerkt und ein allgemeines: ah,<lb/>
Herr Stein! &#x017F;ieh da, Herr Doctor! bewillkommnete<lb/>
ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein<lb/>
paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0135] die Töne der Nachtigall auf Noten bringen? wer die Schönheit zergliedern? Oswald verſuchte es auch nicht; er fühlte nur, daß er etwas Schöneres nie im Leben geſehen habe, nie wieder ſehen werde, und es war ihm, als ob ein holder Traum, den er oft und oft geträumt, nun endlich in Erfüllung gegangen, als ob die blaue Blume, nach der er allüberall vergeblich ge¬ ſucht, nun endlich gefunden ſei... Oswald wollte die Geſellſchaft begrüßen, aber es war, als ob ſein Fuß an den Boden gefeſſelt wäre. Eine ihm unerklärliche Angſt ergriff ihn, ein banges Zagen, als ob jetzt etwas Ungeheures geſchehen müſſe, als werde in dieſem Augenblick von geheimen Mächten des Schickſals über das Wohl und Wehe ſeines Lebens entſchieden ... er hätte fliehen mögen, weit, weit fort, in die tiefſte Einſamkeit... Da bemerkte er, daß der alte Baron, dem es draußen zu kühl werden mochte, aus dem Kreiſe aus¬ geſchieden war und ſich dem Hauſe näherte. Er raffte ſich gewaltſam empor und trat durch die Fenſterthür dem Kommenden entgegen. Sein Erſcheinen wurde natürlich ſofort bemerkt und ein allgemeines: ah, Herr Stein! ſieh da, Herr Doctor! bewillkommnete ihn, während Bruno, den Anderen voraus, mit ein paar mächtigen Sprüngen bei ihm war und ihn um¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/135
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/135>, abgerufen am 24.11.2024.