Stadtmauer herumspielen und Steinchen, Blumen und andere Seltenheiten, die er auf seinen Entdeckungsreisen fand, auf den Schooß einer schönen, jungen, blassen Frau sammeln, die ihm jedes Mal, wenn er zu ihr kam, das lockige Haupt streichelte und mit jener Ge¬ duld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, seine unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er ihr auch diese Blumen gebracht und die schöne Frau hatte gesagt: das ist Rittersporn. Und dann hatte sie die Blume lange sinnend angesehen, bis ihr von dem langen Hinstarren die Thränen in die Augen kamen und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und sein Haupt stürmisch an ihre Brust gedrückt, und da mochte er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, einge¬ schlafen sein, denn in diesem Augenblicke zerflatterte das Bild. -- Die junge, schöne Frau, das wußte er, war seine Mutter; sie war gestorben, als er noch nicht fünf Jahre alt war. Wer hat nicht an sich selbst schon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem Gewirre des Lebens, wo eine Erscheinung die andere verdrängt, und wir stets unter der tyrannischen Gewalt des Augenblickes stehen, Alles, selbst das Theuerste, selbst die Eltern, die uns das Leben gaben, vergessen lernen. So hatte auch Oswald fast schon vergessen, daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine ein¬
Stadtmauer herumſpielen und Steinchen, Blumen und andere Seltenheiten, die er auf ſeinen Entdeckungsreiſen fand, auf den Schooß einer ſchönen, jungen, blaſſen Frau ſammeln, die ihm jedes Mal, wenn er zu ihr kam, das lockige Haupt ſtreichelte und mit jener Ge¬ duld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, ſeine unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er ihr auch dieſe Blumen gebracht und die ſchöne Frau hatte geſagt: das iſt Ritterſporn. Und dann hatte ſie die Blume lange ſinnend angeſehen, bis ihr von dem langen Hinſtarren die Thränen in die Augen kamen und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und ſein Haupt ſtürmiſch an ihre Bruſt gedrückt, und da mochte er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, einge¬ ſchlafen ſein, denn in dieſem Augenblicke zerflatterte das Bild. — Die junge, ſchöne Frau, das wußte er, war ſeine Mutter; ſie war geſtorben, als er noch nicht fünf Jahre alt war. Wer hat nicht an ſich ſelbſt ſchon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem Gewirre des Lebens, wo eine Erſcheinung die andere verdrängt, und wir ſtets unter der tyranniſchen Gewalt des Augenblickes ſtehen, Alles, ſelbſt das Theuerſte, ſelbſt die Eltern, die uns das Leben gaben, vergeſſen lernen. So hatte auch Oswald faſt ſchon vergeſſen, daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine ein¬
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Stadtmauer herumſpielen und Steinchen, Blumen und
andere Seltenheiten, die er auf ſeinen Entdeckungsreiſen
fand, auf den Schooß einer ſchönen, jungen, blaſſen
Frau ſammeln, die ihm jedes Mal, wenn er zu ihr
kam, das lockige Haupt ſtreichelte und mit jener Ge¬
duld, die nur eine Mutter hat, nicht müde wurde, ſeine
unzähligen Fragen zu beantworten. Und da hatte er
ihr auch dieſe Blumen gebracht und die ſchöne Frau
hatte geſagt: das iſt Ritterſporn. Und dann hatte ſie
die Blume lange ſinnend angeſehen, bis ihr von dem
langen Hinſtarren die Thränen in die Augen kamen
und hatte ihn auf ihren Schooß genommen und ſein
Haupt ſtürmiſch an ihre Bruſt gedrückt, und da mochte
er denn wohl, von dem vielen Spielen müde, einge¬
ſchlafen ſein, denn in dieſem Augenblicke zerflatterte das
Bild. — Die junge, ſchöne Frau, das wußte er, war
ſeine Mutter; ſie war geſtorben, als er noch nicht
fünf Jahre alt war. Wer hat nicht an ſich ſelbſt
ſchon die traurige Erfahrung gemacht, daß wir in dem
Gewirre des Lebens, wo eine Erſcheinung die andere
verdrängt, und wir ſtets unter der tyranniſchen Gewalt
des Augenblickes ſtehen, Alles, ſelbſt das Theuerſte,
ſelbſt die Eltern, die uns das Leben gaben, vergeſſen
lernen. So hatte auch Oswald faſt ſchon vergeſſen,
daß er je eine liebe Mutter gehabt; jetzt rief eine ein¬
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/41>, abgerufen am 28.11.2024.
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