lich und wahr erschienen sei, wie der Gesang der Haide¬ lerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach die Predigt des eitlen Pastors auf ihn gemacht habe.
"Ja, ja," sagte der Doctor, "Göthe's Wort bleibt ewig wahr: Es ärgert die Menschen, daß die Wahr¬ heit so einfach ist. Um den Leuten weiß zu machen, es sei ein, Wunder wie, großes Wunder, behängen sie dieselbe mit allerlei bunten Fetzen und Lappen, und führen sie dann in Prozession umher. Solche Men¬ schen aber, wie unsere Alte da, lesen nur ein Capitel in dem großen Buche des Alls, aber sie lesen es wieder und immer wieder, sechszig, siebzig Jahre lang, bis sie es auswendig wissen. Und da das Ganze ja doch aus einem Geiste geschrieben ist, so kommen sie schließlich weiter, wie die große Heerde der Halb-, Viertel und Achtel-Gebildeten, die in unruhiger Hast das Buch von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern, überall etwas heraus schnüffeln und am Ende denn doch so klug oder so dumm bleiben, wie sie im Anfang waren."
"Ja wohl," sagte Oswald, "ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung ist zum Beispiel die Baronin von Grenwitz. Was hat diese Frau nicht alles gelesen: deutsch, französisch, englisch, schwedisch; Heiliges und Profanes, die besten und die dümmsten
lich und wahr erſchienen ſei, wie der Geſang der Haide¬ lerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach die Predigt des eitlen Paſtors auf ihn gemacht habe.
„Ja, ja,“ ſagte der Doctor, „Göthe's Wort bleibt ewig wahr: Es ärgert die Menſchen, daß die Wahr¬ heit ſo einfach iſt. Um den Leuten weiß zu machen, es ſei ein, Wunder wie, großes Wunder, behängen ſie dieſelbe mit allerlei bunten Fetzen und Lappen, und führen ſie dann in Prozeſſion umher. Solche Men¬ ſchen aber, wie unſere Alte da, leſen nur ein Capitel in dem großen Buche des Alls, aber ſie leſen es wieder und immer wieder, ſechszig, ſiebzig Jahre lang, bis ſie es auswendig wiſſen. Und da das Ganze ja doch aus einem Geiſte geſchrieben iſt, ſo kommen ſie ſchließlich weiter, wie die große Heerde der Halb-, Viertel und Achtel-Gebildeten, die in unruhiger Haſt das Buch von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern, überall etwas heraus ſchnüffeln und am Ende denn doch ſo klug oder ſo dumm bleiben, wie ſie im Anfang waren.“
„Ja wohl,“ ſagte Oswald, „ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung iſt zum Beiſpiel die Baronin von Grenwitz. Was hat dieſe Frau nicht alles geleſen: deutſch, franzöſiſch, engliſch, ſchwediſch; Heiliges und Profanes, die beſten und die dümmſten
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lich und wahr erſchienen ſei, wie der Geſang der Haide¬
lerche, und welchen widerwärtigen Eindruck hernach
die Predigt des eitlen Paſtors auf ihn gemacht habe.
„Ja, ja,“ ſagte der Doctor, „Göthe's Wort bleibt
ewig wahr: Es ärgert die Menſchen, daß die Wahr¬
heit ſo einfach iſt. Um den Leuten weiß zu machen,
es ſei ein, Wunder wie, großes Wunder, behängen ſie
dieſelbe mit allerlei bunten Fetzen und Lappen, und
führen ſie dann in Prozeſſion umher. Solche Men¬
ſchen aber, wie unſere Alte da, leſen nur ein Capitel
in dem großen Buche des Alls, aber ſie leſen es wieder
und immer wieder, ſechszig, ſiebzig Jahre lang, bis ſie
es auswendig wiſſen. Und da das Ganze ja doch aus
einem Geiſte geſchrieben iſt, ſo kommen ſie ſchließlich
weiter, wie die große Heerde der Halb-, Viertel und
Achtel-Gebildeten, die in unruhiger Haſt das Buch
von vorn bis hinten und wieder zurück durchblättern,
überall etwas heraus ſchnüffeln und am Ende denn
doch ſo klug oder ſo dumm bleiben, wie ſie im Anfang
waren.“
„Ja wohl,“ ſagte Oswald, „ein lebendiger Beweis
für die Richtigkeit Ihrer Bemerkung iſt zum Beiſpiel
die Baronin von Grenwitz. Was hat dieſe Frau nicht
alles geleſen: deutſch, franzöſiſch, engliſch, ſchwediſch;
Heiliges und Profanes, die beſten und die dümmſten
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/300>, abgerufen am 24.11.2024.
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