Oswald hatte sich am niedrigen, offenen Fenster auf einen Schemel gesetzt, und schaute sich in dem Zimmerchen um. Man erkannte auf den ersten Blick, daß hier in diesem Häuschen ein guter Geist waltete, der aber sicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde dort auf dem Bett seine Wohnung aufgeschlagen hatte. Das Bett war frisch überzogen, die Zimmerdecke, die Wände waren sorgfältig gereinigt, der Fußboden mit Sand bestreut. Die Luft im Zimmer war frisch, die kleinen Fensterscheiben so klar, wie es ihre grünliche Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clausen hatte am Bett gesessen, und wie Oswald aus einigen wunderlichen Manipulationen schloß, irgend eine mag¬ netische Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt in einen erquickenderen Schlaf zu fallen schien. Sie stand auf und sagte: "Ich will die Kinder zu Bett bringen, Sie bleiben doch so lange hier?"
Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte sie da¬ von, kam nach einer Viertelstunde wieder und setzte sich zu dem jungen Mann an das Fenster. Sie hatte ein Strickzeug in der Hand und strickte mit einer für ihr Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinder¬ strümpfchen. So saß sie da, bald nach dem Kranken horchend, bald die Maschen an ihrem Strumpfe zäh¬
Oswald hatte ſich am niedrigen, offenen Fenſter auf einen Schemel geſetzt, und ſchaute ſich in dem Zimmerchen um. Man erkannte auf den erſten Blick, daß hier in dieſem Häuschen ein guter Geiſt waltete, der aber ſicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde dort auf dem Bett ſeine Wohnung aufgeſchlagen hatte. Das Bett war friſch überzogen, die Zimmerdecke, die Wände waren ſorgfältig gereinigt, der Fußboden mit Sand beſtreut. Die Luft im Zimmer war friſch, die kleinen Fenſterſcheiben ſo klar, wie es ihre grünliche Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clauſen hatte am Bett geſeſſen, und wie Oswald aus einigen wunderlichen Manipulationen ſchloß, irgend eine mag¬ netiſche Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt in einen erquickenderen Schlaf zu fallen ſchien. Sie ſtand auf und ſagte: „Ich will die Kinder zu Bett bringen, Sie bleiben doch ſo lange hier?“
Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte ſie da¬ von, kam nach einer Viertelſtunde wieder und ſetzte ſich zu dem jungen Mann an das Fenſter. Sie hatte ein Strickzeug in der Hand und ſtrickte mit einer für ihr Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinder¬ ſtrümpfchen. So ſaß ſie da, bald nach dem Kranken horchend, bald die Maſchen an ihrem Strumpfe zäh¬
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Oswald hatte ſich am niedrigen, offenen Fenſter
auf einen Schemel geſetzt, und ſchaute ſich in dem
Zimmerchen um. Man erkannte auf den erſten Blick,
daß hier in dieſem Häuschen ein guter Geiſt waltete,
der aber ſicherlich nicht in dem rohen Trunkenbolde
dort auf dem Bett ſeine Wohnung aufgeſchlagen hatte.
Das Bett war friſch überzogen, die Zimmerdecke, die
Wände waren ſorgfältig gereinigt, der Fußboden mit
Sand beſtreut. Die Luft im Zimmer war friſch, die
kleinen Fenſterſcheiben ſo klar, wie es ihre grünliche
Farbe und das Alter eben zuließen. Mutter Clauſen
hatte am Bett geſeſſen, und wie Oswald aus einigen
wunderlichen Manipulationen ſchloß, irgend eine mag¬
netiſche Kur mit dem Kranken vorgenommen, der jetzt
in einen erquickenderen Schlaf zu fallen ſchien. Sie
ſtand auf und ſagte: „Ich will die Kinder zu Bett
bringen, Sie bleiben doch ſo lange hier?“
Auf Oswalds bejahende Antwort trippelte ſie da¬
von, kam nach einer Viertelſtunde wieder und ſetzte ſich
zu dem jungen Mann an das Fenſter. Sie hatte ein
Strickzeug in der Hand und ſtrickte mit einer für ihr
Alter unbegreiflichen Schnelligkeit an einem Kinder¬
ſtrümpfchen. So ſaß ſie da, bald nach dem Kranken
horchend, bald die Maſchen an ihrem Strumpfe zäh¬
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/287>, abgerufen am 25.11.2024.
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