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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

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warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk,
ergriff die Kinder, führte sie in's Haus und kam wieder
heraus, als der Wagen eben vor der Thür still hielt.

"Ist er todt?" fragte sie, an den Wagen tretend.

"Nein, Mütterchen!" sagte Oswald.

"Ah, sieh, der junge Herr von gestern! Na, das
gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit
den armen Menschen.-- Tragt ihn nur hier herein,
ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht."

Der Inspector und Oswald hoben den Mann, der
vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn,
nicht ohne sich zu bücken, durch die Hausthür über den
kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort
auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett.
Die Alte folgte, hieß den Inspector, ihr den Mann
entkleiden helfen und sagte ihm dann:

"So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und
ich wollen schon mit dem Jochen fertig werden."

Der Inspector ließ sich diese Erlaubniß nicht zwei¬
mal sagen; mit einigen unverständlichen Worten drückte
er sich aus der Stube, und Oswald sah nur durch
das Fenster, wie er draußen, ehe er das Sattelpferd
bestieg, einen langen, langen Schluck aus seiner Flasche
that, als ob er nach solcher geistigen und körperlichen
Anstrengung einer Erquickung ganz besonders bedürfe.

warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk,
ergriff die Kinder, führte ſie in's Haus und kam wieder
heraus, als der Wagen eben vor der Thür ſtill hielt.

„Iſt er todt?“ fragte ſie, an den Wagen tretend.

„Nein, Mütterchen!“ ſagte Oswald.

„Ah, ſieh, der junge Herr von geſtern! Na, das
gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit
den armen Menſchen.— Tragt ihn nur hier herein,
ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht.“

Der Inſpector und Oswald hoben den Mann, der
vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn,
nicht ohne ſich zu bücken, durch die Hausthür über den
kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort
auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett.
Die Alte folgte, hieß den Inſpector, ihr den Mann
entkleiden helfen und ſagte ihm dann:

„So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und
ich wollen ſchon mit dem Jochen fertig werden.“

Der Inſpector ließ ſich dieſe Erlaubniß nicht zwei¬
mal ſagen; mit einigen unverſtändlichen Worten drückte
er ſich aus der Stube, und Oswald ſah nur durch
das Fenſter, wie er draußen, ehe er das Sattelpferd
beſtieg, einen langen, langen Schluck aus ſeiner Flaſche
that, als ob er nach ſolcher geiſtigen und körperlichen
Anſtrengung einer Erquickung ganz beſonders bedürfe.

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[276/0286] warf einen Blick nach dem herankommenden Fuhrwerk, ergriff die Kinder, führte ſie in's Haus und kam wieder heraus, als der Wagen eben vor der Thür ſtill hielt. „Iſt er todt?“ fragte ſie, an den Wagen tretend. „Nein, Mütterchen!“ ſagte Oswald. „Ah, ſieh, der junge Herr von geſtern! Na, das gefällt mir von Ihnen, daß Sie Mitleid haben mit den armen Menſchen.— Tragt ihn nur hier herein, ich habe die Kinder in meine Kammer gebracht.“ Der Inſpector und Oswald hoben den Mann, der vollkommen regungslos war, vom Wagen, trugen ihn, nicht ohne ſich zu bücken, durch die Hausthür über den kleinen Flur in die niedrige Stube, und legten ihn dort auf ein breites, mit blauem Kattun überzogenes Bett. Die Alte folgte, hieß den Inſpector, ihr den Mann entkleiden helfen und ſagte ihm dann: „So, Sie können nun gehen; der Herr Stein und ich wollen ſchon mit dem Jochen fertig werden.“ Der Inſpector ließ ſich dieſe Erlaubniß nicht zwei¬ mal ſagen; mit einigen unverſtändlichen Worten drückte er ſich aus der Stube, und Oswald ſah nur durch das Fenſter, wie er draußen, ehe er das Sattelpferd beſtieg, einen langen, langen Schluck aus ſeiner Flaſche that, als ob er nach ſolcher geiſtigen und körperlichen Anſtrengung einer Erquickung ganz beſonders bedürfe.

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/286>, abgerufen am 25.11.2024.