oft ganze Tage und Nächte zubringe, wenn die dummen Menschen mich einmal mehr als gewöhnlich geärgert haben, und ich, da ich keine Gesellschaft haben kann, wie ich sie wünsche, wenigstens ganz einsam sein will."
"Und da machen Sie dann mit dem Harfner im Wilhelm Meister die traurige Erfahrung, daß "wer sich der Einsamkeit ergiebt, bald allein ist;" aber Ihnen hätte ich solche hypochondrische Grillen am wenigsten zugetraut."
"Warum nicht mir?"
"Weil Sie so gut und so heiter blicken -- blicken können."
"Und wissen Sie nicht, daß gerade die heitern Augen am leichtesten weinen?"
"Ich möchte Sie um Alles in der Welt nicht weinen sehen; ich glaube, das könnte mir das Lachen auf immerdar verleiden."
Und wieder ruhten ihre Blicke ineinander, und ihre Seelen küßten sich.
"Nun denn, so kommen Sie!" sagte Melitta.
"Es zieht ein Gewitter herauf," bemerkte der alte Baumann vom Fenster her, ohne sich umzuwenden.
"Bis es herauf ist, sind wir längst drüben;" sagte Melitta, die sich schon erhoben hatte. "Und wenn Sie
oft ganze Tage und Nächte zubringe, wenn die dummen Menſchen mich einmal mehr als gewöhnlich geärgert haben, und ich, da ich keine Geſellſchaft haben kann, wie ich ſie wünſche, wenigſtens ganz einſam ſein will.“
„Und da machen Sie dann mit dem Harfner im Wilhelm Meiſter die traurige Erfahrung, daß „wer ſich der Einſamkeit ergiebt, bald allein iſt;“ aber Ihnen hätte ich ſolche hypochondriſche Grillen am wenigſten zugetraut.“
„Warum nicht mir?“
„Weil Sie ſo gut und ſo heiter blicken — blicken können.“
„Und wiſſen Sie nicht, daß gerade die heitern Augen am leichteſten weinen?“
„Ich möchte Sie um Alles in der Welt nicht weinen ſehen; ich glaube, das könnte mir das Lachen auf immerdar verleiden.“
Und wieder ruhten ihre Blicke ineinander, und ihre Seelen küßten ſich.
„Nun denn, ſo kommen Sie!“ ſagte Melitta.
„Es zieht ein Gewitter herauf,“ bemerkte der alte Baumann vom Fenſter her, ohne ſich umzuwenden.
„Bis es herauf iſt, ſind wir längſt drüben;“ ſagte Melitta, die ſich ſchon erhoben hatte. „Und wenn Sie
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oft ganze Tage und Nächte zubringe, wenn die dummen
Menſchen mich einmal mehr als gewöhnlich geärgert
haben, und ich, da ich keine Geſellſchaft haben kann,
wie ich ſie wünſche, wenigſtens ganz einſam ſein will.“
„Und da machen Sie dann mit dem Harfner im
Wilhelm Meiſter die traurige Erfahrung, daß „wer
ſich der Einſamkeit ergiebt, bald allein iſt;“ aber Ihnen
hätte ich ſolche hypochondriſche Grillen am wenigſten
zugetraut.“
„Warum nicht mir?“
„Weil Sie ſo gut und ſo heiter blicken — blicken
können.“
„Und wiſſen Sie nicht, daß gerade die heitern
Augen am leichteſten weinen?“
„Ich möchte Sie um Alles in der Welt nicht
weinen ſehen; ich glaube, das könnte mir das Lachen
auf immerdar verleiden.“
Und wieder ruhten ihre Blicke ineinander, und ihre
Seelen küßten ſich.
„Nun denn, ſo kommen Sie!“ ſagte Melitta.
„Es zieht ein Gewitter herauf,“ bemerkte der alte
Baumann vom Fenſter her, ohne ſich umzuwenden.
„Bis es herauf iſt, ſind wir längſt drüben;“ ſagte
Melitta, die ſich ſchon erhoben hatte. „Und wenn Sie
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/197>, abgerufen am 16.02.2025.
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