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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECT. VIII.
so viel möglich noch mit den gelindesten worten gegen die widersacher/ und daß man
mehr erbarmen als haß gegen sie wahrnehme/ auch die zuhörer mehr zur liebe ge-
gen ihre personen als feindschafft vermahne/ zu tractiren: den meisten zweck der
predigten diesen seyen zulassen damit erkantnüß GOttes/ der wahre lebendige glau-
be/ und dessen früchten durch die krafft des göttlichen worts in würckung des heili-
gen Geistes in ihren hertzen erwecket und vermehrt werden: als welches das vor-
nehmste in unserem amt ist.

8. Die gottseligkeit nicht so wohl zu treiben mere legaliter und mit blossen
schelten auff die laster (ob wohl auch solches ad convictionem conscientiae zu-
thun) als zu zeigen/ wie solche einmahl eine nothwendige frucht des glaubens seyen
müsse/ und ohne dieses der glaube nicht wahrhafftig seye/ noch zum trost dienen kön-
ne. So dann vielmehr die hertzen durch vorstellung der liebe GOttes und theu-
rer uns erzeigten wohlthaten zu erwärmen/ und mit rühmung der seligkeit der kin-
der GOTTes auch hie in diesem leben in der heiligung anzureitzen/ daß mit jener
furcht uns zu schrecken/ so zur ersten bereitung gehören mag/ aber die rechte bekeh-
rung der hertzen nicht ausrichten kan.

9. Wo etwas tractirte darauff zu sehen/ daß alle einwürffe so viel derer vorsehen
könte/ abgeleinet/ und also den hertzen nach möglichkeit alle ausflucht zu ihrer über-
zeugung aus GOttes wort (daß sie ja sehen/ es seye nicht unser trieb/ sondern der
ausdrückliche wille GOttes) benommen werde: daher den elenchum in wich-
tigen sachen niemal mit wenigen zu treiben/ sondern ihm lieber eine weil gar auff zu-
schieben/ biß man gelegenheit hätte/ denselben recht gründlich außzuführen/ es seye
dann sache/ daß solches bereits zu andern mahlen und etwa kurtz vorher geschehen/
und man sich darauff beziehen können/ da auch mit wenigen die bestraffung gesche-
hen könte: sonsten sorgte/ eine gantz kurtze und ohne völlig convicirende gründe
thuende bestraffung/ sonderlich wann auch harte worte dazu gebraucht werden/
seye gleichsam/ wann man in ein feüer nur einwenig wasser schüttet oder sprützet/ so
es eher irritiret und stärcker brennen macht als außlöschet. Also auch nach einem
ernstlichen gethanenen elencho eine weil damit ein zu halten/ wo nicht sonderliche
rationes die wiederhohlung erforderten/ hingegen den zuhörern zeit zu gönnen/ sich
gleichsam zu besinnen/ und erst wieder noch einer weil anzusetzen.

10. Jn allen wichtigen materien gern an der zu hörer gewissen mich zu ad-
dresir
en/ ob sie nicht vor GOTT/ der in ihre hertzen sehe/ sich überzeugt befinden/
und insgesamt sie offt zu der prüffung ihrer selbst vor GOttes angesicht/ und daß sie
demselben auff diese frage jetzo in ihren hertzen antworten solten/ zu treiben. Wel-
ches ich weiß/ offt die meiste krafft in den predigten gehabt zu haben.

11. Das Evangelium am meisten zu treiben/ und um seines mißbrauchs
willen nichts von den gütern desselben zu verschweigen/ aber auch nur zu verwahren/
daß unglaubige sich dessen ohne widerspruch ihres eigenen gewissens nicht miß-

brau-
Oooo

ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECT. VIII.
ſo viel moͤglich noch mit den gelindeſten worten gegen die wideꝛſacher/ und daß man
mehr erbarmen als haß gegen ſie wahrnehme/ auch die zuhoͤrer mehr zur liebe ge-
gen ihre perſonen als feindſchafft vermahne/ zu tractiren: den meiſten zweck der
predigten dieſen ſeyen zulaſſen damit erkantnuͤß GOttes/ der wahre lebendige glau-
be/ und deſſen fruͤchten durch die krafft des goͤttlichen worts in wuͤrckung des heili-
gen Geiſtes in ihren hertzen erwecket und vermehrt werden: als welches das vor-
nehmſte in unſerem amt iſt.

8. Die gottſeligkeit nicht ſo wohl zu treiben mere legaliter und mit bloſſen
ſchelten auff die laſter (ob wohl auch ſolches ad convictionem conſcientiæ zu-
thun) als zu zeigen/ wie ſolche einmahl eine nothwendige frucht des glaubens ſeyen
muͤſſe/ und ohne dieſes der glaube nicht wahrhafftig ſeye/ noch zum troſt dienen koͤn-
ne. So dann vielmehr die hertzen durch vorſtellung der liebe GOttes und theu-
rer uns erzeigten wohlthaten zu erwaͤrmen/ und mit ruͤhmung der ſeligkeit der kin-
der GOTTes auch hie in dieſem leben in der heiligung anzureitzen/ daß mit jener
furcht uns zu ſchrecken/ ſo zur erſten bereitung gehoͤren mag/ abeꝛ die ꝛechte bekeh-
rung der hertzen nicht ausrichten kan.

9. Wo etwas tractirte darauff zu ſehen/ daß alle einwuͤrffe ſo viel derer vorſehen
koͤnte/ abgeleinet/ und alſo den hertzen nach moͤglichkeit alle ausflucht zu ihreꝛ uͤber-
zeugung aus GOttes wort (daß ſie ja ſehen/ es ſeye nicht unſer trieb/ ſondern der
ausdruͤckliche wille GOttes) benommen werde: daher den elenchum in wich-
tigen ſachen niemal mit wenigen zu treiben/ ſondern ihm lieber eine weil gar auff zu-
ſchieben/ biß man gelegenheit haͤtte/ denſelben recht gruͤndlich außzufuͤhren/ es ſeye
dann ſache/ daß ſolches bereits zu andern mahlen und etwa kurtz vorher geſchehen/
und man ſich darauff beziehen koͤnnen/ da auch mit wenigen die beſtraffung geſche-
hen koͤnte: ſonſten ſorgte/ eine gantz kurtze und ohne voͤllig convicirende gruͤnde
thuende beſtraffung/ ſonderlich wann auch harte worte dazu gebraucht werden/
ſeye gleichſam/ wann man in ein feuͤer nur einwenig waſſer ſchuͤttet oder ſpruͤtzet/ ſo
es eher irritiret und ſtaͤrcker brennen macht als außloͤſchet. Alſo auch nach einem
ernſtlichen gethanenen elencho eine weil damit ein zu halten/ wo nicht ſonderliche
rationes die wiederhohlung erforderten/ hingegen den zuhoͤrern zeit zu goͤnnen/ ſich
gleichſam zu beſinnen/ und erſt wieder noch einer weil anzuſetzen.

10. Jn allen wichtigen materien gern an der zu hoͤrer gewiſſen mich zu ad-
dreſir
en/ ob ſie nicht vor GOTT/ der in ihre hertzen ſehe/ ſich uͤberzeugt befinden/
und insgeſamt ſie offt zu der pruͤffung ihrer ſelbſt vor GOttes angeſicht/ und daß ſie
demſelben auff dieſe frage jetzo in ihren hertzen antworten ſolten/ zu treiben. Wel-
ches ich weiß/ offt die meiſte krafft in den predigten gehabt zu haben.

11. Das Evangelium am meiſten zu treiben/ und um ſeines mißbrauchs
willen nichts von den guͤtern deſſelben zu verſchweigen/ aber auch nur zu verwahren/
daß unglaubige ſich deſſen ohne widerſpruch ihres eigenen gewiſſens nicht miß-

brau-
Oooo
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[657/0675] ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECT. VIII. ſo viel moͤglich noch mit den gelindeſten worten gegen die wideꝛſacher/ und daß man mehr erbarmen als haß gegen ſie wahrnehme/ auch die zuhoͤrer mehr zur liebe ge- gen ihre perſonen als feindſchafft vermahne/ zu tractiren: den meiſten zweck der predigten dieſen ſeyen zulaſſen damit erkantnuͤß GOttes/ der wahre lebendige glau- be/ und deſſen fruͤchten durch die krafft des goͤttlichen worts in wuͤrckung des heili- gen Geiſtes in ihren hertzen erwecket und vermehrt werden: als welches das vor- nehmſte in unſerem amt iſt. 8. Die gottſeligkeit nicht ſo wohl zu treiben mere legaliter und mit bloſſen ſchelten auff die laſter (ob wohl auch ſolches ad convictionem conſcientiæ zu- thun) als zu zeigen/ wie ſolche einmahl eine nothwendige frucht des glaubens ſeyen muͤſſe/ und ohne dieſes der glaube nicht wahrhafftig ſeye/ noch zum troſt dienen koͤn- ne. So dann vielmehr die hertzen durch vorſtellung der liebe GOttes und theu- rer uns erzeigten wohlthaten zu erwaͤrmen/ und mit ruͤhmung der ſeligkeit der kin- der GOTTes auch hie in dieſem leben in der heiligung anzureitzen/ daß mit jener furcht uns zu ſchrecken/ ſo zur erſten bereitung gehoͤren mag/ abeꝛ die ꝛechte bekeh- rung der hertzen nicht ausrichten kan. 9. Wo etwas tractirte darauff zu ſehen/ daß alle einwuͤrffe ſo viel derer vorſehen koͤnte/ abgeleinet/ und alſo den hertzen nach moͤglichkeit alle ausflucht zu ihreꝛ uͤber- zeugung aus GOttes wort (daß ſie ja ſehen/ es ſeye nicht unſer trieb/ ſondern der ausdruͤckliche wille GOttes) benommen werde: daher den elenchum in wich- tigen ſachen niemal mit wenigen zu treiben/ ſondern ihm lieber eine weil gar auff zu- ſchieben/ biß man gelegenheit haͤtte/ denſelben recht gruͤndlich außzufuͤhren/ es ſeye dann ſache/ daß ſolches bereits zu andern mahlen und etwa kurtz vorher geſchehen/ und man ſich darauff beziehen koͤnnen/ da auch mit wenigen die beſtraffung geſche- hen koͤnte: ſonſten ſorgte/ eine gantz kurtze und ohne voͤllig convicirende gruͤnde thuende beſtraffung/ ſonderlich wann auch harte worte dazu gebraucht werden/ ſeye gleichſam/ wann man in ein feuͤer nur einwenig waſſer ſchuͤttet oder ſpruͤtzet/ ſo es eher irritiret und ſtaͤrcker brennen macht als außloͤſchet. Alſo auch nach einem ernſtlichen gethanenen elencho eine weil damit ein zu halten/ wo nicht ſonderliche rationes die wiederhohlung erforderten/ hingegen den zuhoͤrern zeit zu goͤnnen/ ſich gleichſam zu beſinnen/ und erſt wieder noch einer weil anzuſetzen. 10. Jn allen wichtigen materien gern an der zu hoͤrer gewiſſen mich zu ad- dreſiren/ ob ſie nicht vor GOTT/ der in ihre hertzen ſehe/ ſich uͤberzeugt befinden/ und insgeſamt ſie offt zu der pruͤffung ihrer ſelbſt vor GOttes angeſicht/ und daß ſie demſelben auff dieſe frage jetzo in ihren hertzen antworten ſolten/ zu treiben. Wel- ches ich weiß/ offt die meiſte krafft in den predigten gehabt zu haben. 11. Das Evangelium am meiſten zu treiben/ und um ſeines mißbrauchs willen nichts von den guͤtern deſſelben zu verſchweigen/ aber auch nur zu verwahren/ daß unglaubige ſich deſſen ohne widerſpruch ihres eigenen gewiſſens nicht miß- brau- Oooo

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 657. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/675>, abgerufen am 23.11.2024.