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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECTIO VIII.
abweichung von der richti[g]keit derselben/ daß schon die Herrn Scribenten selbst in
ihrem von GOTT eingegebenen schrifften darüber eyffe[r]n musten/ daß bereits
Paulus den muth willigen läst erern der gnade/ so entweder mit fleiß sich derselben
mißbrauchten/ oder mit solchem vorwand der lehre etwas schädliches anzuhängen
trachteten/ den mund stopffen muste; Jacobus aber solche reden füh[r]ete/ welche
scheinen daß gegentheil in sich zu fassen: Ob wohl der heilige Geist sich nie wieder-
spricht. Was hat der liebe Lutherus ernstlicher getrieben/ als daß wir uns allein
an die schrifft halten/ keines menschen autorität unsern glauben unterwerffen/ und
alle leuthe dieselbe lesen solten? was ist aber aus solchem principio und dessen
ernstlicher einschärffung erfolgt? gewißlich wo mans ad inviduam Lutheri zie-
hen wolte/ solte man sagen/ das es die ursach gewesen so vieler secten/ irrungen und
unruhen/ so erfolget: Ja man kans nicht leugnen/ daß wahrhafftig vieles davon
unterblieben wü[r]de seyn/ wo man in der alten dienstbarkeit der autorität der kirchen
geblieben wäre/ und die göttliche wahrheit unter derselben ferner forschung unter-
druckt gelassen hätte. Ja was vor ein stärckere veranlassung hat die so schreckli-
che ruchlosigkeit/ über die wir noch jetzo nicht starck genug schreyen/ oder sie aus
der menschen hertzen bringen können/ als die von dem Luthero und seinen gehülf-
fen ernstlich getriebene und aus der finsternüß der trostlosen werck-lehr deß Pap-
stums an das liecht wiederum gebrachte lehr deß allein seligmachenden glau-
bens/
nicht in ihrem heiligen verstand/ sondern ungeschickter oder boßhafftiger ver-
kehrung? Daß wir also sreylich sehen/ daß in allen diesen begebenheiten der kirchen
und bey den jenigen grossen wercken/ die unzweiffelich von GOTT gekommen
(wie wir an unsers theuren Lutheri reformation nicht zu zweiffelen haben)
dannoch/ ich will nicht sagen die klugheit solcher herrlicher rüstzeuge des HERRen/
sondern das ihnen von demselben in herr lichen maß verliehene maß des Geistes der
weißheit nicht hat verwehren können/ daß nicht mißbräuche daher/ oder vielmehr
dabey (denn niemahl war die lehr selbs ursach/ sondern nur eine anlaß des teuffels
der sonsten ruhiger/ als dann am meisten anfängt zu wüten/ und auf alle weise sich
zu widersetzen/ wann er kräfftig angegriffen wird) entstanden wären/ welche dazu
grossen schaden gebracht haben. Was ist sich dann zu verwundern/ daß wo heut
zu tag von Christlichen lehrern hin und wider die lehr von dem lebendigen glauben/
(die zweyerley in sich fast/ einmahl daß der glauben nicht in einer menschlichen wissen-
schafft oder einbildung unsers verstands/ die wir uns wie in andern scientiis selbs
machen und eindrucken könten/ sondern in einem aus der krafft des heiligen Geistes
gewürcktem göttlichem liecht und erkäntnüß bestehe/ andern theils/ das solches
liecht nicht ohne wärme/ und eine solche furcht seyn könne/ die den gantzen menschen
nicht nur äusserlich zu einem andern moral-leben bringe/ sondern von innen ände-
re/ und gantz anders/ nemlich nach dem himmlischen gesinnet/ mache/ deßwegen

mit

ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECTIO VIII.
abweichung von der richti[g]keit derſelben/ daß ſchon die Herrn Scribenten ſelbſt in
ihrem von GOTT eingegebenen ſchrifften daruͤber eyffe[r]n muſten/ daß bereits
Paulus den muth willigen laͤſt erern der gnade/ ſo entweder mit fleiß ſich derſelben
mißbrauchten/ oder mit ſolchem vorwand der lehre etwas ſchaͤdliches anzuhaͤngen
trachteten/ den mund ſtopffen muſte; Jacobus aber ſolche reden fuͤh[r]ete/ welche
ſcheinen daß gegentheil in ſich zu faſſen: Ob wohl der heilige Geiſt ſich nie wieder-
ſpricht. Was hat der liebe Lutherus ernſtlicher getꝛieben/ als daß wir uns allein
an die ſchrifft halten/ keines menſchen autoritaͤt unſern glauben unterwerffen/ und
alle leuthe dieſelbe leſen ſolten? was iſt aber aus ſolchem principio und deſſen
ernſtlicher einſchaͤrffung erfolgt? gewißlich wo mans ad inviduam Lutheri zie-
hen wolte/ ſolte man ſagen/ das es die urſach geweſen ſo vieler ſecten/ irrungen und
unruhen/ ſo erfolget: Ja man kans nicht leugnen/ daß wahrhafftig vieles davon
unterblieben wuͤ[r]de ſeyn/ wo man in der alten dienſtbarkeit der autoritaͤt der kirchen
geblieben waͤre/ und die goͤttliche wahrheit unter derſelben ferner forſchung unter-
druckt gelaſſen haͤtte. Ja was vor ein ſtaͤrckere veranlaſſung hat die ſo ſchreckli-
che ruchloſigkeit/ uͤber die wir noch jetzo nicht ſtarck genug ſchreyen/ oder ſie aus
der menſchen hertzen bringen koͤnnen/ als die von dem Luthero und ſeinen gehuͤlf-
fen ernſtlich getriebene und aus der finſternuͤß der troſtloſen weꝛck-lehr deß Pap-
ſtums an das liecht wiederum gebrachte lehr deß allein ſeligmachenden glau-
bens/
nicht in ihrem heiligen verſtand/ ſondern ungeſchickter oder boßhafftiger ver-
kehrung? Daß wir alſo ſreylich ſehen/ daß in allen dieſen begebenheiten der kirchen
und bey den jenigen groſſen wercken/ die unzweiffelich von GOTT gekommen
(wie wir an unſers theuren Lutheri reformation nicht zu zweiffelen haben)
dannoch/ ich will nicht ſagen die klugheit ſolcher herrlicher ruͤſtzeuge des HERRen/
ſondern das ihnen von demſelben in herr lichen maß verliehene maß des Geiſtes der
weißheit nicht hat verwehren koͤnnen/ daß nicht mißbraͤuche daher/ oder vielmehr
dabey (denn niemahl war die lehr ſelbs urſach/ ſondern nur eine anlaß des teuffels
der ſonſten ruhiger/ als dann am meiſten anfaͤngt zu wuͤten/ und auf alle weiſe ſich
zu widerſetzen/ wann er kraͤfftig angegriffen wird) entſtanden waͤren/ welche dazu
groſſen ſchaden gebracht haben. Was iſt ſich dann zu verwundern/ daß wo heut
zu tag von Chriſtlichen lehrern hin und wider die lehr von dem lebendigen glauben/
(die zweyerley in ſich faſt/ einmahl daß der glauben nicht in einer menſchlichen wiſſen-
ſchafft oder einbildung unſers verſtands/ die wir uns wie in andern ſcientiis ſelbs
machen und eindrucken koͤnten/ ſondern in einem aus der krafft des heiligen Geiſtes
gewuͤrcktem goͤttlichem liecht und erkaͤntnuͤß beſtehe/ andern theils/ das ſolches
liecht nicht ohne waͤrme/ und eine ſolche furcht ſeyn koͤnne/ die den gantzen menſchen
nicht nur aͤuſſerlich zu einem andern moral-leben bringe/ ſondern von innen aͤnde-
re/ und gantz anders/ nemlich nach dem himmliſchen geſinnet/ mache/ deßwegen

mit
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[551/0569] ARTIC. I. DISTINCTIO IV. SECTIO VIII. abweichung von der richtigkeit derſelben/ daß ſchon die Herrn Scribenten ſelbſt in ihrem von GOTT eingegebenen ſchrifften daruͤber eyffern muſten/ daß bereits Paulus den muth willigen laͤſt erern der gnade/ ſo entweder mit fleiß ſich derſelben mißbrauchten/ oder mit ſolchem vorwand der lehre etwas ſchaͤdliches anzuhaͤngen trachteten/ den mund ſtopffen muſte; Jacobus aber ſolche reden fuͤhrete/ welche ſcheinen daß gegentheil in ſich zu faſſen: Ob wohl der heilige Geiſt ſich nie wieder- ſpricht. Was hat der liebe Lutherus ernſtlicher getꝛieben/ als daß wir uns allein an die ſchrifft halten/ keines menſchen autoritaͤt unſern glauben unterwerffen/ und alle leuthe dieſelbe leſen ſolten? was iſt aber aus ſolchem principio und deſſen ernſtlicher einſchaͤrffung erfolgt? gewißlich wo mans ad inviduam Lutheri zie- hen wolte/ ſolte man ſagen/ das es die urſach geweſen ſo vieler ſecten/ irrungen und unruhen/ ſo erfolget: Ja man kans nicht leugnen/ daß wahrhafftig vieles davon unterblieben wuͤrde ſeyn/ wo man in der alten dienſtbarkeit der autoritaͤt der kirchen geblieben waͤre/ und die goͤttliche wahrheit unter derſelben ferner forſchung unter- druckt gelaſſen haͤtte. Ja was vor ein ſtaͤrckere veranlaſſung hat die ſo ſchreckli- che ruchloſigkeit/ uͤber die wir noch jetzo nicht ſtarck genug ſchreyen/ oder ſie aus der menſchen hertzen bringen koͤnnen/ als die von dem Luthero und ſeinen gehuͤlf- fen ernſtlich getriebene und aus der finſternuͤß der troſtloſen weꝛck-lehr deß Pap- ſtums an das liecht wiederum gebrachte lehr deß allein ſeligmachenden glau- bens/ nicht in ihrem heiligen verſtand/ ſondern ungeſchickter oder boßhafftiger ver- kehrung? Daß wir alſo ſreylich ſehen/ daß in allen dieſen begebenheiten der kirchen und bey den jenigen groſſen wercken/ die unzweiffelich von GOTT gekommen (wie wir an unſers theuren Lutheri reformation nicht zu zweiffelen haben) dannoch/ ich will nicht ſagen die klugheit ſolcher herrlicher ruͤſtzeuge des HERRen/ ſondern das ihnen von demſelben in herr lichen maß verliehene maß des Geiſtes der weißheit nicht hat verwehren koͤnnen/ daß nicht mißbraͤuche daher/ oder vielmehr dabey (denn niemahl war die lehr ſelbs urſach/ ſondern nur eine anlaß des teuffels der ſonſten ruhiger/ als dann am meiſten anfaͤngt zu wuͤten/ und auf alle weiſe ſich zu widerſetzen/ wann er kraͤfftig angegriffen wird) entſtanden waͤren/ welche dazu groſſen ſchaden gebracht haben. Was iſt ſich dann zu verwundern/ daß wo heut zu tag von Chriſtlichen lehrern hin und wider die lehr von dem lebendigen glauben/ (die zweyerley in ſich faſt/ einmahl daß der glauben nicht in einer menſchlichen wiſſen- ſchafft oder einbildung unſers verſtands/ die wir uns wie in andern ſcientiis ſelbs machen und eindrucken koͤnten/ ſondern in einem aus der krafft des heiligen Geiſtes gewuͤrcktem goͤttlichem liecht und erkaͤntnuͤß beſtehe/ andern theils/ das ſolches liecht nicht ohne waͤrme/ und eine ſolche furcht ſeyn koͤnne/ die den gantzen menſchen nicht nur aͤuſſerlich zu einem andern moral-leben bringe/ ſondern von innen aͤnde- re/ und gantz anders/ nemlich nach dem himmliſchen geſinnet/ mache/ deßwegen mit

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/569>, abgerufen am 25.11.2024.