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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCT. III. SECT. XXII.
weiseste Vater unter seinen kindern die sache also weislich einzurichten/ daß nicht
nur unter gegenwärtigen ie ein glied dem andern/ auch da es daran nicht geden-
cket/ sondern sonsten seine liebe und danckbarkeit gegen GOtt bezeugen will/ zur
stärckung dienen muß: auf daß sie alle bekennen/ daß sie alle ie eins des andern/
der stärckere dem schwächern/ und dieser des andern/ bedörfftig seyen: welches
so vielmehr die zusammenfügung und haltung der glieder befördert/ diese aber
ein herrliches mittel ist/ daß in dieselbe der von ihrem allgemeinen hochgelobten
Haupt ihnen mittheilende Geist und dessen krafft gleichsam so viel ungehinderter
durchtringe/ und in alle sich desto völliger ergiesse. Jm übrigen daß der treue
Vater so andere meine geringe arbeit als die predigten Joh. 3. so kräfftiglich ge-
segnet hat/ daß ihn suchende hertzen eine gute bewegung daraus empfunden/
schreibe ich auch seiner unermeßlichen güte billich zu/ welche mich und andere leh-
ren will/ wie dero krafft nicht an gelehrte schrifften gebunden/ sondern in demjeni-
gen am unverhindertsten sich erzeige/ wo man sich der grössesten einfalt gebrau-
chet und eher mit fleiß/ was nach der sonst an sich selbs an ihrem ort nicht verwerff-
lichen erudition schmecket/ auslässet/ als dieselbe mit einzumischen sich befleißi-
get/ auf daß der alte rath Gottes noch bestehe/ der uns geoffenbahret ist Matth.
11. v. 25. 26. 1. Cor. 1. v. 17. u. f. 2. v. 13. So seye sein nahme und weisheit in allem
gepriesen/ wo diese auch nicht mit unsern gedancken/ wie wirs am besten achteten/
überein kommt. Daß die liebe Gottes das kräfftigste/ ja einzige mittel seye/ die
hertzen von der liebe der welt abzuziehen/ ist freylich eine unwiedersprechliche
wahrheit. Es kan in unser hertz sich von nichts/ dazu es einige inclination hat/
abziehen oder abziehen lassen/ es werde ihm dann etwas anders und wichtigers
gewiesen/ dadurch jenes muß ersetzet werden. Also ob schon ein hertz selbs die
wichtigkeit derjenigen dinge wahrhafftig erkennet/ an welchen es mit liebe klebet/
wie auch die Heyden solche eitelkeit offt nachdrücklich erkannt/ und wohl gar an-
dein vorgestellet haben/ so ist ihnen doch so wenig müglich/ sich deswegen davon
abzutrennen/ es habe dann an die stelle etwas bessers/ als wenig einer in denen
wasserwellen des meers das kleine stücklein bret/ daran er sich hält/ und doch nicht
endlich wird erhalten können/ fahren lässet/ man werffe ihm dann etwas stärcke-
res dar/ daran er sich fester halten kan. Wo also einen menschen die Göttliche
liebe in Christo/ als der grund aller seeligkeit/ und also diese in demselbigen/ recht
also vorgestellet wird/ daß seine seele der recht überzeuget/ und von ihrer seeligkeit
gerühret ist/ so verliehret alles irrdische/ als welches mit jenem in keine verglei-
chung kommen kan/ seinen werth bey einer solchen seelen. So ist auch bey unserer
kirchen unwiedersprechlich/ daß alle tugenden/ so viel derer sind/ lauter früchte
des glaubens seyen: der glaube aber ist das jenige/ so aus erkänntnüß der Göttl.
liebe und dero früchten herkommet/ folglich auch die wurtzel des übrigen guten.
Daher ob wohl das Evangelium eigendlich keine lehre der wercke ist/ als welches
dem Gesetz zukommet/ so ist doch dem Gesetz nicht müglich/ ein einig gutes werck

bey
Ggg 2

ARTIC. I. DISTINCT. III. SECT. XXII.
weiſeſte Vater unter ſeinen kindern die ſache alſo weislich einzurichten/ daß nicht
nur unter gegenwaͤrtigen ie ein glied dem andern/ auch da es daran nicht geden-
cket/ ſondern ſonſten ſeine liebe und danckbarkeit gegen GOtt bezeugen will/ zur
ſtaͤrckung dienen muß: auf daß ſie alle bekennen/ daß ſie alle ie eins des andern/
der ſtaͤrckere dem ſchwaͤchern/ und dieſer des andern/ bedoͤrfftig ſeyen: welches
ſo vielmehr die zuſammenfuͤgung und haltung der glieder befoͤrdert/ dieſe aber
ein herrliches mittel iſt/ daß in dieſelbe der von ihrem allgemeinen hochgelobten
Haupt ihnen mittheilende Geiſt und deſſen krafft gleichſam ſo viel ungehinderter
durchtringe/ und in alle ſich deſto voͤlliger ergieſſe. Jm uͤbrigen daß der treue
Vater ſo andere meine geringe arbeit als die predigten Joh. 3. ſo kraͤfftiglich ge-
ſegnet hat/ daß ihn ſuchende hertzen eine gute bewegung daraus empfunden/
ſchreibe ich auch ſeiner unermeßlichen guͤte billich zu/ welche mich und andere leh-
ren will/ wie dero krafft nicht an gelehrte ſchrifften gebunden/ ſondern in demjeni-
gen am unverhindertſten ſich erzeige/ wo man ſich der groͤſſeſten einfalt gebrau-
chet und eher mit fleiß/ was nach der ſonſt an ſich ſelbs an ihrem ort nicht verwerff-
lichen erudition ſchmecket/ auslaͤſſet/ als dieſelbe mit einzumiſchen ſich befleißi-
get/ auf daß der alte rath Gottes noch beſtehe/ der uns geoffenbahret iſt Matth.
11. v. 25. 26. 1. Cor. 1. v. 17. u. f. 2. v. 13. So ſeye ſein nahme und weisheit in allem
geprieſen/ wo dieſe auch nicht mit unſern gedancken/ wie wirs am beſten achteten/
uͤberein kommt. Daß die liebe Gottes das kraͤfftigſte/ ja einzige mittel ſeye/ die
hertzen von der liebe der welt abzuziehen/ iſt freylich eine unwiederſprechliche
wahrheit. Es kan in unſer hertz ſich von nichts/ dazu es einige inclination hat/
abziehen oder abziehen laſſen/ es werde ihm dann etwas anders und wichtigers
gewieſen/ dadurch jenes muß erſetzet werden. Alſo ob ſchon ein hertz ſelbs die
wichtigkeit derjenigen dinge wahrhafftig erkennet/ an welchen es mit liebe klebet/
wie auch die Heyden ſolche eitelkeit offt nachdruͤcklich erkannt/ und wohl gar an-
dein vorgeſtellet haben/ ſo iſt ihnen doch ſo wenig muͤglich/ ſich deswegen davon
abzutrennen/ es habe dann an die ſtelle etwas beſſers/ als wenig einer in denen
waſſerwellen des meers das kleine ſtuͤcklein bret/ daran er ſich haͤlt/ und doch nicht
endlich wird erhalten koͤnnen/ fahren laͤſſet/ man werffe ihm dann etwas ſtaͤrcke-
res dar/ daran er ſich feſter halten kan. Wo alſo einen menſchen die Goͤttliche
liebe in Chriſto/ als der grund aller ſeeligkeit/ und alſo dieſe in demſelbigen/ recht
alſo vorgeſtellet wird/ daß ſeine ſeele der recht uͤberzeuget/ und von ihrer ſeeligkeit
geruͤhret iſt/ ſo verliehret alles irrdiſche/ als welches mit jenem in keine verglei-
chung kommen kan/ ſeinen werth bey einer ſolchen ſeelen. So iſt auch bey unſerer
kirchen unwiederſprechlich/ daß alle tugenden/ ſo viel derer ſind/ lauter fruͤchte
des glaubens ſeyen: der glaube aber iſt das jenige/ ſo aus erkaͤnntnuͤß der Goͤttl.
liebe und dero fruͤchten herkommet/ folglich auch die wurtzel des uͤbrigen guten.
Daher ob wohl das Evangelium eigendlich keine lehre der wercke iſt/ als welches
dem Geſetz zukommet/ ſo iſt doch dem Geſetz nicht muͤglich/ ein einig gutes werck

bey
Ggg 2
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[419/0437] ARTIC. I. DISTINCT. III. SECT. XXII. weiſeſte Vater unter ſeinen kindern die ſache alſo weislich einzurichten/ daß nicht nur unter gegenwaͤrtigen ie ein glied dem andern/ auch da es daran nicht geden- cket/ ſondern ſonſten ſeine liebe und danckbarkeit gegen GOtt bezeugen will/ zur ſtaͤrckung dienen muß: auf daß ſie alle bekennen/ daß ſie alle ie eins des andern/ der ſtaͤrckere dem ſchwaͤchern/ und dieſer des andern/ bedoͤrfftig ſeyen: welches ſo vielmehr die zuſammenfuͤgung und haltung der glieder befoͤrdert/ dieſe aber ein herrliches mittel iſt/ daß in dieſelbe der von ihrem allgemeinen hochgelobten Haupt ihnen mittheilende Geiſt und deſſen krafft gleichſam ſo viel ungehinderter durchtringe/ und in alle ſich deſto voͤlliger ergieſſe. Jm uͤbrigen daß der treue Vater ſo andere meine geringe arbeit als die predigten Joh. 3. ſo kraͤfftiglich ge- ſegnet hat/ daß ihn ſuchende hertzen eine gute bewegung daraus empfunden/ ſchreibe ich auch ſeiner unermeßlichen guͤte billich zu/ welche mich und andere leh- ren will/ wie dero krafft nicht an gelehrte ſchrifften gebunden/ ſondern in demjeni- gen am unverhindertſten ſich erzeige/ wo man ſich der groͤſſeſten einfalt gebrau- chet und eher mit fleiß/ was nach der ſonſt an ſich ſelbs an ihrem ort nicht verwerff- lichen erudition ſchmecket/ auslaͤſſet/ als dieſelbe mit einzumiſchen ſich befleißi- get/ auf daß der alte rath Gottes noch beſtehe/ der uns geoffenbahret iſt Matth. 11. v. 25. 26. 1. Cor. 1. v. 17. u. f. 2. v. 13. So ſeye ſein nahme und weisheit in allem geprieſen/ wo dieſe auch nicht mit unſern gedancken/ wie wirs am beſten achteten/ uͤberein kommt. Daß die liebe Gottes das kraͤfftigſte/ ja einzige mittel ſeye/ die hertzen von der liebe der welt abzuziehen/ iſt freylich eine unwiederſprechliche wahrheit. Es kan in unſer hertz ſich von nichts/ dazu es einige inclination hat/ abziehen oder abziehen laſſen/ es werde ihm dann etwas anders und wichtigers gewieſen/ dadurch jenes muß erſetzet werden. Alſo ob ſchon ein hertz ſelbs die wichtigkeit derjenigen dinge wahrhafftig erkennet/ an welchen es mit liebe klebet/ wie auch die Heyden ſolche eitelkeit offt nachdruͤcklich erkannt/ und wohl gar an- dein vorgeſtellet haben/ ſo iſt ihnen doch ſo wenig muͤglich/ ſich deswegen davon abzutrennen/ es habe dann an die ſtelle etwas beſſers/ als wenig einer in denen waſſerwellen des meers das kleine ſtuͤcklein bret/ daran er ſich haͤlt/ und doch nicht endlich wird erhalten koͤnnen/ fahren laͤſſet/ man werffe ihm dann etwas ſtaͤrcke- res dar/ daran er ſich feſter halten kan. Wo alſo einen menſchen die Goͤttliche liebe in Chriſto/ als der grund aller ſeeligkeit/ und alſo dieſe in demſelbigen/ recht alſo vorgeſtellet wird/ daß ſeine ſeele der recht uͤberzeuget/ und von ihrer ſeeligkeit geruͤhret iſt/ ſo verliehret alles irrdiſche/ als welches mit jenem in keine verglei- chung kommen kan/ ſeinen werth bey einer ſolchen ſeelen. So iſt auch bey unſerer kirchen unwiederſprechlich/ daß alle tugenden/ ſo viel derer ſind/ lauter fruͤchte des glaubens ſeyen: der glaube aber iſt das jenige/ ſo aus erkaͤnntnuͤß der Goͤttl. liebe und dero fruͤchten herkommet/ folglich auch die wurtzel des uͤbrigen guten. Daher ob wohl das Evangelium eigendlich keine lehre der wercke iſt/ als welches dem Geſetz zukommet/ ſo iſt doch dem Geſetz nicht muͤglich/ ein einig gutes werck bey Ggg 2

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/437>, abgerufen am 21.11.2024.