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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
andern am leichsten zur rechten gleichförmigkeit mit Christi ordnung zu bringen/ zu
dero sich die übrige so viel eher alsdann begeben könten; damit so wohl wir wachsen in
dem/ was uns noch mangelt/ als auch die übrige nicht so wol zu uns zu ziehen/ als
dahin zu bringen/ wohin wir auch noch wachsen müsten. Hiermit gehe auf die zweyte
observation, darinnen ich mir gar wohlgefallen lasse/ daß wir unter einander die
unter schiedliche von dem HErrn empfangene gaben in Christlicher demuth vorle-
gen/ und sie untereinander probiren lassen/ welche sache in der forcht GOttes ge-
than nicht unfruchtbar seyn kan. Lasset uns dessen und eiffrigen gebeths vor die sa-
che des HErrn/ an allen orthen befleissen und damit treulich anhalten. Was in
denjenigen beschreibungen der wiedergeburt/ justification und glaubens/ so ich se-
tze desideriret werde/ will ich gerne vernehmen/ und wo nachtrücklichers mir aus
der Schrifft gezeiget wird/ annehmen. Jch bekenne gern daß ich nicht assequire,
was dieses gemeinet seye/ es seye mehr deroselben effectus als essentia beschrie-
ben.
Jn dem ich sonsten/ diese beyde gern solicite unterscheide: Aber wohl weiß/
daß die definitiones rerum sehr schwehr/ und wie man schon in logicis lernet/ die
meiste formae nicht wohl ausgetrücket/ sondern durch vicarias differentias a pro-
prietatibus, effectis
und dergleichen müssen angedeutet werden: erwarte also
hierüber nach freundlichen belieben weitere erleuterung; Solte es auch seyn/ daß
bey solcher meiner beschreibung ich von keinen grund-gelehrten Lutheraner wider-
spruch und verfolgung zu erwarten/ so haben wir ja auch diese nicht zu suchen (ob
wohl auch nicht mit verlust der wahrheit zu fliehen) sondern/ vielmehr GOTT
zudancken/ daß er seine wahrheit-krafft in mehr hertzen/ als wir etwa vorhin ge-
dencken mögen/ versiegelt habe. Jndessen wirds nicht manglen/ daß die praxis
die feindschafft der welt und derjenigen/ die die theori nicht verwerffen können/ un-
ter anderm gesuchten schein genugsam erfahren und nach sich ziehen wird. Und sihe
ich nicht/ wie man sich vonder fleischlichen ausleger theil recht abzusondern/ einen an-
dern tieffern grund bedörffe/ als eben denjenigen/ der von rechtschaffenen Evange-
lischen predigern biß daher aus Gottes wort ist gelegt worden. Dann was wol-
ten wir mehr verlangen/ als daß alle auch in der praxi das jenige thäten/ worauff
wir treiben? Jndem wir ja in unserer Evangelischen lehr dasjenige treiben/ was
die Schrifft/ und also daß unstreitige göttliche wort/ treibet. Uber dieses sehe ich
nicht/ daß wir gehen sollen oder dörffen. Daß der glaube den gantzen menschen
wandle und wieder gebähre/
welches Lutheri wort auch sind/ ist gantz wahr/ weil
nichts an dem menschen ist/ darin nicht die krafft der wiedergeburt gespühret werde/
nehmlich seel und leib/ verstand/ willen/ affecten und dergleichen. Damit wird
der mensch ein gantz anderer mensch/ nicht das etwa nichts mehr von dem alten
menschen an ihm übrig/ sondern daß solche änderung numehr in allen kräfften bey
ihm die oberhand habe/ und nicht nur dieses oder jenes geändert/ daß in dessen in an-

dern

Das ſechſte Capitel.
andern am leichſten zur rechten gleichfoͤrmigkeit mit Chriſti ordnung zu bringen/ zu
dero ſich die uͤbrige ſo viel eher alsdann begeben koͤnten; damit ſo wohl wir wachſen in
dem/ was uns noch mangelt/ als auch die uͤbrige nicht ſo wol zu uns zu ziehen/ als
dahin zu bringen/ wohin wir auch noch wachſen muͤſten. Hieꝛmit gehe auf die zweyte
obſervation, darinnen ich mir gar wohlgefallen laſſe/ daß wir unter einander die
unter ſchiedliche von dem HErrn empfangene gaben in Chriſtlicher demuth vorle-
gen/ und ſie untereinander probiren laſſen/ welche ſache in der forcht GOttes ge-
than nicht unfruchtbar ſeyn kan. Laſſet uns deſſen und eiffrigen gebeths vor die ſa-
che des HErrn/ an allen orthen befleiſſen und damit treulich anhalten. Was in
denjenigen beſchreibungen der wiedergeburt/ juſtification und glaubens/ ſo ich ſe-
tze deſideriret werde/ will ich gerne vernehmen/ und wo nachtruͤcklichers mir aus
der Schrifft gezeiget wird/ annehmen. Jch bekenne gern daß ich nicht aſſequire,
was dieſes gemeinet ſeye/ es ſeye mehr deroſelben effectus als eſſentia beſchrie-
ben.
Jn dem ich ſonſten/ dieſe beyde gern ſolicite unterſcheide: Aber wohl weiß/
daß die definitiones rerum ſehr ſchwehr/ und wie man ſchon in logicis lernet/ die
meiſte formæ nicht wohl ausgetruͤcket/ ſondern durch vicarias differentias â pro-
prietatibus, effectis
und dergleichen muͤſſen angedeutet werden: erwarte alſo
hieruͤber nach freundlichen belieben weitere erleuterung; Solte es auch ſeyn/ daß
bey ſolcher meiner beſchreibung ich von keinen grund-gelehrten Lutheraner wider-
ſpruch und verfolgung zu erwarten/ ſo haben wir ja auch dieſe nicht zu ſuchen (ob
wohl auch nicht mit verluſt der wahrheit zu fliehen) ſondern/ vielmehr GOTT
zudancken/ daß er ſeine wahrheit-krafft in mehr hertzen/ als wir etwa vorhin ge-
dencken moͤgen/ verſiegelt habe. Jndeſſen wirds nicht manglen/ daß die praxis
die feindſchafft der welt und derjenigen/ die die theori nicht verwerffen koͤnnen/ un-
ter anderm geſuchten ſchein genugſam erfahren und nach ſich ziehen wird. Und ſihe
ich nicht/ wie man ſich vonder fleiſchlichen ausleger theil recht abzuſondern/ einen an-
dern tieffern grund bedoͤrffe/ als eben denjenigen/ der von rechtſchaffenen Evange-
liſchen predigern biß daher aus Gottes wort iſt gelegt worden. Dann was wol-
ten wir mehr verlangen/ als daß alle auch in der praxi das jenige thaͤten/ worauff
wir treiben? Jndem wir ja in unſerer Evangeliſchen lehr dasjenige treiben/ was
die Schrifft/ und alſo daß unſtreitige goͤttliche wort/ treibet. Uber dieſes ſehe ich
nicht/ daß wir gehen ſollen oder doͤrffen. Daß der glaube den gantzen menſchen
wandle und wieder gebaͤhre/
welches Lutheri wort auch ſind/ iſt gantz wahr/ weil
nichts an dem menſchen iſt/ darin nicht die krafft der wiedergeburt geſpuͤhret werde/
nehmlich ſeel und leib/ verſtand/ willen/ affecten und dergleichen. Damit wird
der menſch ein gantz anderer menſch/ nicht das etwa nichts mehr von dem alten
menſchen an ihm uͤbrig/ ſondern daß ſolche aͤnderung numehr in allen kraͤfften bey
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[230[232]/0250] Das ſechſte Capitel. andern am leichſten zur rechten gleichfoͤrmigkeit mit Chriſti ordnung zu bringen/ zu dero ſich die uͤbrige ſo viel eher alsdann begeben koͤnten; damit ſo wohl wir wachſen in dem/ was uns noch mangelt/ als auch die uͤbrige nicht ſo wol zu uns zu ziehen/ als dahin zu bringen/ wohin wir auch noch wachſen muͤſten. Hieꝛmit gehe auf die zweyte obſervation, darinnen ich mir gar wohlgefallen laſſe/ daß wir unter einander die unter ſchiedliche von dem HErrn empfangene gaben in Chriſtlicher demuth vorle- gen/ und ſie untereinander probiren laſſen/ welche ſache in der forcht GOttes ge- than nicht unfruchtbar ſeyn kan. Laſſet uns deſſen und eiffrigen gebeths vor die ſa- che des HErrn/ an allen orthen befleiſſen und damit treulich anhalten. Was in denjenigen beſchreibungen der wiedergeburt/ juſtification und glaubens/ ſo ich ſe- tze deſideriret werde/ will ich gerne vernehmen/ und wo nachtruͤcklichers mir aus der Schrifft gezeiget wird/ annehmen. Jch bekenne gern daß ich nicht aſſequire, was dieſes gemeinet ſeye/ es ſeye mehr deroſelben effectus als eſſentia beſchrie- ben. Jn dem ich ſonſten/ dieſe beyde gern ſolicite unterſcheide: Aber wohl weiß/ daß die definitiones rerum ſehr ſchwehr/ und wie man ſchon in logicis lernet/ die meiſte formæ nicht wohl ausgetruͤcket/ ſondern durch vicarias differentias â pro- prietatibus, effectis und dergleichen muͤſſen angedeutet werden: erwarte alſo hieruͤber nach freundlichen belieben weitere erleuterung; Solte es auch ſeyn/ daß bey ſolcher meiner beſchreibung ich von keinen grund-gelehrten Lutheraner wider- ſpruch und verfolgung zu erwarten/ ſo haben wir ja auch dieſe nicht zu ſuchen (ob wohl auch nicht mit verluſt der wahrheit zu fliehen) ſondern/ vielmehr GOTT zudancken/ daß er ſeine wahrheit-krafft in mehr hertzen/ als wir etwa vorhin ge- dencken moͤgen/ verſiegelt habe. Jndeſſen wirds nicht manglen/ daß die praxis die feindſchafft der welt und derjenigen/ die die theori nicht verwerffen koͤnnen/ un- ter anderm geſuchten ſchein genugſam erfahren und nach ſich ziehen wird. Und ſihe ich nicht/ wie man ſich vonder fleiſchlichen ausleger theil recht abzuſondern/ einen an- dern tieffern grund bedoͤrffe/ als eben denjenigen/ der von rechtſchaffenen Evange- liſchen predigern biß daher aus Gottes wort iſt gelegt worden. Dann was wol- ten wir mehr verlangen/ als daß alle auch in der praxi das jenige thaͤten/ worauff wir treiben? Jndem wir ja in unſerer Evangeliſchen lehr dasjenige treiben/ was die Schrifft/ und alſo daß unſtreitige goͤttliche wort/ treibet. Uber dieſes ſehe ich nicht/ daß wir gehen ſollen oder doͤrffen. Daß der glaube den gantzen menſchen wandle und wieder gebaͤhre/ welches Lutheri wort auch ſind/ iſt gantz wahr/ weil nichts an dem menſchen iſt/ darin nicht die krafft der wiedergeburt geſpuͤhret werde/ nehmlich ſeel und leib/ verſtand/ willen/ affecten und dergleichen. Damit wird der menſch ein gantz anderer menſch/ nicht das etwa nichts mehr von dem alten menſchen an ihm uͤbrig/ ſondern daß ſolche aͤnderung numehr in allen kraͤfften bey ihm die oberhand habe/ und nicht nur dieſes oder jenes geaͤndert/ daß in deſſen in an- dern

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 230[232]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/250>, abgerufen am 21.11.2024.