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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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Das andere Capitel.
von zu urtheilen/ gnugsam erkant zu haben/ auch beyderley erweiß/ darmit sie
die streitige facta erweisen wollen/ eingesehen haben müßte; wo aber der streit
selbs ein punctum juris controversarum betrifft/ mag abermal ein Prediger sich
nicht ausgeben/ denselben also zu verstehen/ daß er vor diese oder jene parthey
sprechen könte. Und sind manchmal die sachen so intricat, daß auch die Richter
selbs nicht anders als nach langer untersuchung und berathschlagung das recht
finden können. Ja wenn es geschehen kan/ wie es täglich geschiehet/ daß ein
theil wahrhafftig in seinem gewissen seine sache vor recht hält/ und deswegen oh-
ne dessen verletzung vor gericht/ nachdem er auch gegentheils fundamenta ge-
höret/ aber nicht agnosciret/ litigiret/ biß er/ und zwar mit recht/ condemni-
ret wird/ da er endlich auch selbs dahin gebracht werden kan/ zu sehen/ worin-
nen sein verstoß gestecket seye/ daß er biß dahin recht zu haben gemeinet/ wie solte
denn ein Prediger sich rühmen können/ daß ihm die gerechtigkeit der sache so gnug-
sam bekant seye/ daß er damit vor GOtt treten/ und samt der gemeinde sie als
eine solche vortragen dörffte/ darzu gleichwol eine gewißheit im höchsten grad
gehörte/ der nicht mehr wissen kan/ als was ihm entweder allein eine parthey/
oder auch beyde gesagt haben/ ihm aber nicht hat zukommen können/ daß er alle
erweißthüme gnugsam untersuchet hätte? Nun aber in einer wichtigen sache/
die mir zu völliger gnüge nicht hat bekant seyn können/ ein vorurtheil geben/ ist
eine so viel schwerere praecipitanz, als wichtiger ursache ist/ und viele gewissen
verletzen kan. Daher auch gesetzt den fall/ die sache des patritii sey recht/ und
finde sich auch so/ (welches ich so wenig verneinen als bejahen kan/) so ist doch
dieser vorschnellige ausspruch des Predigers von der praecipitanz und vermessen-
heit so wenig befreyet/ weil er die sache nicht gnug hätte untersuchen können/ als
man ein urtheil so ungehört des andern theils ausgesprochen worden ist/ von der
ungerechtigkeit nicht frey spricht/ ob es wol vor die rechte parthey ausfället.

2. Ob denn nun/ wo einer in sachen/ die ihm amts wegen zukommen/
sich auch übereilet/ solches ihm eher zu gut gehalten/ und der fehler entschuldi-
get würde/ weil ihm gleichwol dieselbe zu untersuchen anbefohlen gewesen/ und
er in derselben aus menschlicher schwachheit etwas sich verstossen können: so lässet
sich hingegen diese des Predigers vermessenheit in dieser sache so viel weniger ent-
schuldigen/ weil noch ein eingriff in fremdes amt darmit geschehen ist. Denn
rechtssachen zu beurtheilen/ gehöret uns Predigern nicht zu: als denen unser Er-
löser darinnen mit seinem exempel/ was wir zu thun haben/ gezeiget hat/ wie
er Luc. 12/ 13. 14. demjenigen/ der von ihm begehrte/ er solte seinem bruder sa-
gen/ daß er das erb mit ihm theilen solte/ zur antwort giebet/ mensch/ wer hat
mich zum Richter oder zum erbschichter über euch gesetzet?
Es ist in dem
geistlichen reich Christi/ in dem wir des HErrn diener seynd/ von dem weltlichen

reich

Das andere Capitel.
von zu urtheilen/ gnugſam erkant zu haben/ auch beyderley erweiß/ darmit ſie
die ſtreitige facta erweiſen wollen/ eingeſehen haben muͤßte; wo aber der ſtreit
ſelbs ein punctum juris controverſarum betrifft/ mag abermal ein Prediger ſich
nicht ausgeben/ denſelben alſo zu verſtehen/ daß er vor dieſe oder jene parthey
ſprechen koͤnte. Und ſind manchmal die ſachen ſo intricat, daß auch die Richter
ſelbs nicht anders als nach langer unterſuchung und berathſchlagung das recht
finden koͤnnen. Ja wenn es geſchehen kan/ wie es taͤglich geſchiehet/ daß ein
theil wahrhafftig in ſeinem gewiſſen ſeine ſache vor recht haͤlt/ und deswegen oh-
ne deſſen verletzung vor gericht/ nachdem er auch gegentheils fundamenta ge-
hoͤret/ aber nicht agnoſciret/ litigiret/ biß er/ und zwar mit recht/ condemni-
ret wird/ da er endlich auch ſelbs dahin gebracht werden kan/ zu ſehen/ worin-
nen ſein verſtoß geſtecket ſeye/ daß er biß dahin recht zu haben gemeinet/ wie ſolte
denn ein Prediger ſich ruͤhmen koͤnnen/ daß ihm die gerechtigkeit der ſache ſo gnug-
ſam bekant ſeye/ daß er damit vor GOtt treten/ und ſamt der gemeinde ſie als
eine ſolche vortragen doͤrffte/ darzu gleichwol eine gewißheit im hoͤchſten grad
gehoͤrte/ der nicht mehr wiſſen kan/ als was ihm entweder allein eine parthey/
oder auch beyde geſagt haben/ ihm aber nicht hat zukommen koͤnnen/ daß er alle
erweißthuͤme gnugſam unterſuchet haͤtte? Nun aber in einer wichtigen ſache/
die mir zu voͤlliger gnuͤge nicht hat bekant ſeyn koͤnnen/ ein vorurtheil geben/ iſt
eine ſo viel ſchwerere præcipitanz, als wichtiger urſache iſt/ und viele gewiſſen
verletzen kan. Daher auch geſetzt den fall/ die ſache des patritii ſey recht/ und
finde ſich auch ſo/ (welches ich ſo wenig verneinen als bejahen kan/) ſo iſt doch
dieſer vorſchnellige ausſpruch des Predigers von der præcipitanz und vermeſſen-
heit ſo wenig befreyet/ weil er die ſache nicht gnug haͤtte unterſuchen koͤnnen/ als
man ein urtheil ſo ungehoͤrt des andern theils ausgeſprochen worden iſt/ von der
ungerechtigkeit nicht frey ſpricht/ ob es wol vor die rechte parthey ausfaͤllet.

2. Ob denn nun/ wo einer in ſachen/ die ihm amts wegen zukommen/
ſich auch uͤbereilet/ ſolches ihm eher zu gut gehalten/ und der fehler entſchuldi-
get wuͤrde/ weil ihm gleichwol dieſelbe zu unterſuchen anbefohlen geweſen/ und
er in derſelben aus menſchlicher ſchwachheit etwas ſich verſtoſſen koͤnnen: ſo laͤſſet
ſich hingegen dieſe des Predigers vermeſſenheit in dieſer ſache ſo viel weniger ent-
ſchuldigen/ weil noch ein eingriff in fremdes amt darmit geſchehen iſt. Denn
rechtsſachen zu beurtheilen/ gehoͤret uns Predigern nicht zu: als denen unſer Er-
loͤſer darinnen mit ſeinem exempel/ was wir zu thun haben/ gezeiget hat/ wie
er Luc. 12/ 13. 14. demjenigen/ der von ihm begehrte/ er ſolte ſeinem bruder ſa-
gen/ daß er das erb mit ihm theilen ſolte/ zur antwort giebet/ menſch/ wer hat
mich zum Richter oder zum erbſchichter uͤber euch geſetzet?
Es iſt in dem
geiſtlichen reich Chriſti/ in dem wir des HErrn diener ſeynd/ von dem weltlichen

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[84/0884] Das andere Capitel. von zu urtheilen/ gnugſam erkant zu haben/ auch beyderley erweiß/ darmit ſie die ſtreitige facta erweiſen wollen/ eingeſehen haben muͤßte; wo aber der ſtreit ſelbs ein punctum juris controverſarum betrifft/ mag abermal ein Prediger ſich nicht ausgeben/ denſelben alſo zu verſtehen/ daß er vor dieſe oder jene parthey ſprechen koͤnte. Und ſind manchmal die ſachen ſo intricat, daß auch die Richter ſelbs nicht anders als nach langer unterſuchung und berathſchlagung das recht finden koͤnnen. Ja wenn es geſchehen kan/ wie es taͤglich geſchiehet/ daß ein theil wahrhafftig in ſeinem gewiſſen ſeine ſache vor recht haͤlt/ und deswegen oh- ne deſſen verletzung vor gericht/ nachdem er auch gegentheils fundamenta ge- hoͤret/ aber nicht agnoſciret/ litigiret/ biß er/ und zwar mit recht/ condemni- ret wird/ da er endlich auch ſelbs dahin gebracht werden kan/ zu ſehen/ worin- nen ſein verſtoß geſtecket ſeye/ daß er biß dahin recht zu haben gemeinet/ wie ſolte denn ein Prediger ſich ruͤhmen koͤnnen/ daß ihm die gerechtigkeit der ſache ſo gnug- ſam bekant ſeye/ daß er damit vor GOtt treten/ und ſamt der gemeinde ſie als eine ſolche vortragen doͤrffte/ darzu gleichwol eine gewißheit im hoͤchſten grad gehoͤrte/ der nicht mehr wiſſen kan/ als was ihm entweder allein eine parthey/ oder auch beyde geſagt haben/ ihm aber nicht hat zukommen koͤnnen/ daß er alle erweißthuͤme gnugſam unterſuchet haͤtte? Nun aber in einer wichtigen ſache/ die mir zu voͤlliger gnuͤge nicht hat bekant ſeyn koͤnnen/ ein vorurtheil geben/ iſt eine ſo viel ſchwerere præcipitanz, als wichtiger urſache iſt/ und viele gewiſſen verletzen kan. Daher auch geſetzt den fall/ die ſache des patritii ſey recht/ und finde ſich auch ſo/ (welches ich ſo wenig verneinen als bejahen kan/) ſo iſt doch dieſer vorſchnellige ausſpruch des Predigers von der præcipitanz und vermeſſen- heit ſo wenig befreyet/ weil er die ſache nicht gnug haͤtte unterſuchen koͤnnen/ als man ein urtheil ſo ungehoͤrt des andern theils ausgeſprochen worden iſt/ von der ungerechtigkeit nicht frey ſpricht/ ob es wol vor die rechte parthey ausfaͤllet. 2. Ob denn nun/ wo einer in ſachen/ die ihm amts wegen zukommen/ ſich auch uͤbereilet/ ſolches ihm eher zu gut gehalten/ und der fehler entſchuldi- get wuͤrde/ weil ihm gleichwol dieſelbe zu unterſuchen anbefohlen geweſen/ und er in derſelben aus menſchlicher ſchwachheit etwas ſich verſtoſſen koͤnnen: ſo laͤſſet ſich hingegen dieſe des Predigers vermeſſenheit in dieſer ſache ſo viel weniger ent- ſchuldigen/ weil noch ein eingriff in fremdes amt darmit geſchehen iſt. Denn rechtsſachen zu beurtheilen/ gehoͤret uns Predigern nicht zu: als denen unſer Er- loͤſer darinnen mit ſeinem exempel/ was wir zu thun haben/ gezeiget hat/ wie er Luc. 12/ 13. 14. demjenigen/ der von ihm begehrte/ er ſolte ſeinem bruder ſa- gen/ daß er das erb mit ihm theilen ſolte/ zur antwort giebet/ menſch/ wer hat mich zum Richter oder zum erbſchichter uͤber euch geſetzet? Es iſt in dem geiſtlichen reich Chriſti/ in dem wir des HErrn diener ſeynd/ von dem weltlichen reich

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/884>, abgerufen am 22.11.2024.