sitzen mag, der Inhalt derselben aber für unser vorschreitendes Er- kennen in fortwährendem Fliessen bleiben muss und jeder momentan erreichte auf einen noch tieferen und für seine Aufgabe zulänglicheren hinweist -- so ist dies nicht mehr Skeptizismus, als das allgemein Zu- gegebne: dass zwar alles Naturgeschehen unbedingt ausnahmslosen Ge- setzen gehorcht, dass aber dieselben als erkannte fortwährender Korrektur unterliegen und die uns zugängigen Inhalte dieser Gesetz- lichkeit immer historisch bedingt sind und jener Absolutheit ihres Allgemeinbegriffs entbehren. So wenig also die letzten Voraussetzungen eines abgeschlossenen Erkennens als nur bedingt, subjektiv oder relativ wahr gelten dürften, so sehr darf und muss es doch jede einzelne, die sich uns momentan als Erfüllung dieser Form anbietet.
Dass so jede Vorstellung nur im Verhältnis zu einer anderen wahr ist, selbst wenn das ideale, für uns aber im Unendlichen liegende System des Erkennens eine von dieser Bedingtheit gelöste Wahrheit enthalten sollte -- das bezeichnet wohl einen Relativismus unseres Ver- haltens, der auf anderen Gebieten in analoger Weise gilt. Für die menschlichen Vergesellschaftungen mag es Normen der Praxis geben, die, von einem übermenschlichen Geiste erkannt, das absolute und ewige Recht heissen dürften. Dieses müsste eine juristische causa sui sein, d. h. seine Legitimation in sich selbst tragen, denn sowie es sie von einer höheren Normierung entlehnte, so würde eben diese, und nicht jenes, die absolute, unter allen Umständen gültige Rechtsbestim- mung bedeuten. Nun giebt es thatsächlich keinen einzigen Gesetzes- inhalt, der den Anspruch auf ewige Unabänderlichkeit erheben könnte, jeder vielmehr hat nur die zeitliche Gültigkeit, die die historischen Umstände und ihr Wechsel ihm lassen. Und diese Gültigkeit bezieht er, falls seine Setzung selbst schon eine legitime und keine willkür- liche ist, aus einer schon vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die Beseitigung des alten Rechtsinhaltes mit derselben Legalität fliesst, wie sein bisheriges Bestehen. Jede Rechtsverfassung enthält also in sich die Kräfte -- und zwar nicht nur die äusserlichen, sondern auch die ideal- rechtlichen -- zu ihrer eigenen Änderung, Ausbreitung oder Aufhebung, so dass z. B. dasjenige Gesetz, das einem Parlamente die Gesetzgebung überträgt, nicht nur die Legitimität eines Gesetzes A bewirkt, das ein von demselben Parlament gegebenes Gesetz B aufhebt, sondern es sogar zu einem rechtlichen Akte macht, wenn das Parlament auf seine Legislation zu gunsten einer anderen Instanz verzichtet. Das heisst also, von der anderen Seite gesehen: jedes Gesetz besitzt seine Würde als solches nur durch sein Verhältnis zu einem anderen Gesetz, keines hat sie durch sich selbst. Grade wie ein neuer, und noch so revo-
sitzen mag, der Inhalt derselben aber für unser vorschreitendes Er- kennen in fortwährendem Flieſsen bleiben muſs und jeder momentan erreichte auf einen noch tieferen und für seine Aufgabe zulänglicheren hinweist — so ist dies nicht mehr Skeptizismus, als das allgemein Zu- gegebne: daſs zwar alles Naturgeschehen unbedingt ausnahmslosen Ge- setzen gehorcht, daſs aber dieselben als erkannte fortwährender Korrektur unterliegen und die uns zugängigen Inhalte dieser Gesetz- lichkeit immer historisch bedingt sind und jener Absolutheit ihres Allgemeinbegriffs entbehren. So wenig also die letzten Voraussetzungen eines abgeschlossenen Erkennens als nur bedingt, subjektiv oder relativ wahr gelten dürften, so sehr darf und muſs es doch jede einzelne, die sich uns momentan als Erfüllung dieser Form anbietet.
Daſs so jede Vorstellung nur im Verhältnis zu einer anderen wahr ist, selbst wenn das ideale, für uns aber im Unendlichen liegende System des Erkennens eine von dieser Bedingtheit gelöste Wahrheit enthalten sollte — das bezeichnet wohl einen Relativismus unseres Ver- haltens, der auf anderen Gebieten in analoger Weise gilt. Für die menschlichen Vergesellschaftungen mag es Normen der Praxis geben, die, von einem übermenschlichen Geiste erkannt, das absolute und ewige Recht heiſsen dürften. Dieses müſste eine juristische causa sui sein, d. h. seine Legitimation in sich selbst tragen, denn sowie es sie von einer höheren Normierung entlehnte, so würde eben diese, und nicht jenes, die absolute, unter allen Umständen gültige Rechtsbestim- mung bedeuten. Nun giebt es thatsächlich keinen einzigen Gesetzes- inhalt, der den Anspruch auf ewige Unabänderlichkeit erheben könnte, jeder vielmehr hat nur die zeitliche Gültigkeit, die die historischen Umstände und ihr Wechsel ihm lassen. Und diese Gültigkeit bezieht er, falls seine Setzung selbst schon eine legitime und keine willkür- liche ist, aus einer schon vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die Beseitigung des alten Rechtsinhaltes mit derselben Legalität flieſst, wie sein bisheriges Bestehen. Jede Rechtsverfassung enthält also in sich die Kräfte — und zwar nicht nur die äuſserlichen, sondern auch die ideal- rechtlichen — zu ihrer eigenen Änderung, Ausbreitung oder Aufhebung, so daſs z. B. dasjenige Gesetz, das einem Parlamente die Gesetzgebung überträgt, nicht nur die Legitimität eines Gesetzes A bewirkt, das ein von demselben Parlament gegebenes Gesetz B aufhebt, sondern es sogar zu einem rechtlichen Akte macht, wenn das Parlament auf seine Legislation zu gunsten einer anderen Instanz verzichtet. Das heiſst also, von der anderen Seite gesehen: jedes Gesetz besitzt seine Würde als solches nur durch sein Verhältnis zu einem anderen Gesetz, keines hat sie durch sich selbst. Grade wie ein neuer, und noch so revo-
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sitzen mag, der Inhalt derselben aber für unser vorschreitendes Er-
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hinweist — so ist dies nicht mehr Skeptizismus, als das allgemein Zu-
gegebne: daſs zwar alles Naturgeschehen unbedingt ausnahmslosen Ge-
setzen gehorcht, daſs aber dieselben als erkannte fortwährender
Korrektur unterliegen und die uns zugängigen Inhalte dieser Gesetz-
lichkeit immer historisch bedingt sind und jener Absolutheit ihres
Allgemeinbegriffs entbehren. So wenig also die letzten Voraussetzungen
eines abgeschlossenen Erkennens als nur bedingt, subjektiv oder relativ
wahr gelten dürften, so sehr darf und muſs es doch jede einzelne,
die sich uns momentan als Erfüllung dieser Form anbietet.
Daſs so jede Vorstellung nur im Verhältnis zu einer anderen wahr
ist, selbst wenn das ideale, für uns aber im Unendlichen liegende
System des Erkennens eine von dieser Bedingtheit gelöste Wahrheit
enthalten sollte — das bezeichnet wohl einen Relativismus unseres Ver-
haltens, der auf anderen Gebieten in analoger Weise gilt. Für
die menschlichen Vergesellschaftungen mag es Normen der Praxis
geben, die, von einem übermenschlichen Geiste erkannt, das absolute
und ewige Recht heiſsen dürften. Dieses müſste eine juristische causa
sui sein, d. h. seine Legitimation in sich selbst tragen, denn sowie es
sie von einer höheren Normierung entlehnte, so würde eben diese, und
nicht jenes, die absolute, unter allen Umständen gültige Rechtsbestim-
mung bedeuten. Nun giebt es thatsächlich keinen einzigen Gesetzes-
inhalt, der den Anspruch auf ewige Unabänderlichkeit erheben könnte,
jeder vielmehr hat nur die zeitliche Gültigkeit, die die historischen
Umstände und ihr Wechsel ihm lassen. Und diese Gültigkeit bezieht
er, falls seine Setzung selbst schon eine legitime und keine willkür-
liche ist, aus einer schon vorher bestehenden Rechtsnorm, aus der die
Beseitigung des alten Rechtsinhaltes mit derselben Legalität flieſst, wie
sein bisheriges Bestehen. Jede Rechtsverfassung enthält also in sich
die Kräfte — und zwar nicht nur die äuſserlichen, sondern auch die ideal-
rechtlichen — zu ihrer eigenen Änderung, Ausbreitung oder Aufhebung,
so daſs z. B. dasjenige Gesetz, das einem Parlamente die Gesetzgebung
überträgt, nicht nur die Legitimität eines Gesetzes A bewirkt, das ein
von demselben Parlament gegebenes Gesetz B aufhebt, sondern es
sogar zu einem rechtlichen Akte macht, wenn das Parlament auf seine
Legislation zu gunsten einer anderen Instanz verzichtet. Das heiſst
also, von der anderen Seite gesehen: jedes Gesetz besitzt seine Würde
als solches nur durch sein Verhältnis zu einem anderen Gesetz, keines
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/86>, abgerufen am 27.11.2024.
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