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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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weder in Kreisform oder in quadratischer Form werden die Ort-
schaften oder Gebäude angeordnet. In Campanellas Sonnenstaat ist
der Plan der Reichshauptstadt mathematisch abgezirkelt, ebenso wie
die Tageseinteilung der Bürger und die Abstufung ihrer Rechte und
Pflichten. Rabelais' Orden der Thelemiten lehrt, in Opposition zu
Morus, einen so absoluten Individualismus, dass es in diesem Utopien
keine Uhr geben darf, sondern alles nach Bedürfnis und Gelegenheit
geschehen soll; aber der Stil der unbedingten Ausgerechnetheit und
Rationalisierung des Lebens verlockt ihn doch, die Gebäulichkeiten
seines Idealstaates genau symmetrisch anzuordnen: ein Riesenbau in
Form eines Sechsecks, in jeder Ecke ein Turm, sechzig Schritt im
Durchmesser. Dieser allgemeine Zug sozialistischer Pläne zeugt nur
in roher Form für die tiefe Anziehungskraft, die der Gedanke der
harmonischen, innerlich ausgeglichenen, allen Widerstand der irratio-
nalen Individualität überwindenden Organisation des menschlichen
Thuns ausübt. Die symmetrisch-rhythmische Gestaltung bietet sich
so als die erste und einfachste dar, mit der der Verstand den Stoff
des Lebens gleichsam stilisiert, beherrschbar und assimilierbar macht,
als das erste Schema, vermöge dessen er sich in die Dinge hinein-
bilden kann. Aber eben damit ist auch die Grenze für Sinn und
Recht dieses Lebensstiles angedeutet. Denn nach zwei Seiten hin
wirkt er vergewaltigend: einmal auf das Subjekt, dessen Impulse und
Bedürfnisse doch nicht in prästabilierter, sondern jedesmal nur glück-
lich-zufälliger Harmonie mit jenem feststehenden Schema auftreten;
und nicht weniger der äusseren Wirklichkeit gegenüber, deren Kräfte
und Verhältnisse zu uns sich nur gewaltsam in einen so ein-
fachen Rahmen fassen lassen. Alle Gewaltthätigkeiten und Inadäquat-
heiten, die die Systematik gegenüber der Wirklichkeit mit sich bringt,
kommen auch der Rhythmisierung und Symmetrie in der Gestaltung
der Lebensinhalte zu. Wie es am Einzelmenschen zwar eine erhebliche
Kraft verrät, wenn er Personen und Dinge sich assimiliert, indem er
ihnen die Form und das Gesetz seines Wesens aufzwingt, wie aber
der noch grössere Mensch den Dingen in ihrer Eigenart gerecht wird
und sie grade mit dieser und gemäss ihrer in den Kreis seiner Zwecke
und seiner Macht hineinzieht -- so ist es zwar schon eine Höhe des
Menschlichen, die theoretische und praktische Welt in ein Schema von
uns aus zu zwingen; grösser aber ist es, die eignen Gesetze und Forde-
rungen der Dinge anerkennend und ihnen folgsam, sie erst so in
unser Wesen und Wirken einzubauen. Denn das beweist nicht nur
eine sehr viel grössere Expansionsfähigkeit und Bildsamkeit des letzteren,
sondern es kann auch den Reichtum und die Möglichkeiten der Dinge

weder in Kreisform oder in quadratischer Form werden die Ort-
schaften oder Gebäude angeordnet. In Campanellas Sonnenstaat ist
der Plan der Reichshauptstadt mathematisch abgezirkelt, ebenso wie
die Tageseinteilung der Bürger und die Abstufung ihrer Rechte und
Pflichten. Rabelais’ Orden der Thelemiten lehrt, in Opposition zu
Morus, einen so absoluten Individualismus, daſs es in diesem Utopien
keine Uhr geben darf, sondern alles nach Bedürfnis und Gelegenheit
geschehen soll; aber der Stil der unbedingten Ausgerechnetheit und
Rationalisierung des Lebens verlockt ihn doch, die Gebäulichkeiten
seines Idealstaates genau symmetrisch anzuordnen: ein Riesenbau in
Form eines Sechsecks, in jeder Ecke ein Turm, sechzig Schritt im
Durchmesser. Dieser allgemeine Zug sozialistischer Pläne zeugt nur
in roher Form für die tiefe Anziehungskraft, die der Gedanke der
harmonischen, innerlich ausgeglichenen, allen Widerstand der irratio-
nalen Individualität überwindenden Organisation des menschlichen
Thuns ausübt. Die symmetrisch-rhythmische Gestaltung bietet sich
so als die erste und einfachste dar, mit der der Verstand den Stoff
des Lebens gleichsam stilisiert, beherrschbar und assimilierbar macht,
als das erste Schema, vermöge dessen er sich in die Dinge hinein-
bilden kann. Aber eben damit ist auch die Grenze für Sinn und
Recht dieses Lebensstiles angedeutet. Denn nach zwei Seiten hin
wirkt er vergewaltigend: einmal auf das Subjekt, dessen Impulse und
Bedürfnisse doch nicht in prästabilierter, sondern jedesmal nur glück-
lich-zufälliger Harmonie mit jenem feststehenden Schema auftreten;
und nicht weniger der äuſseren Wirklichkeit gegenüber, deren Kräfte
und Verhältnisse zu uns sich nur gewaltsam in einen so ein-
fachen Rahmen fassen lassen. Alle Gewaltthätigkeiten und Inadäquat-
heiten, die die Systematik gegenüber der Wirklichkeit mit sich bringt,
kommen auch der Rhythmisierung und Symmetrie in der Gestaltung
der Lebensinhalte zu. Wie es am Einzelmenschen zwar eine erhebliche
Kraft verrät, wenn er Personen und Dinge sich assimiliert, indem er
ihnen die Form und das Gesetz seines Wesens aufzwingt, wie aber
der noch gröſsere Mensch den Dingen in ihrer Eigenart gerecht wird
und sie grade mit dieser und gemäſs ihrer in den Kreis seiner Zwecke
und seiner Macht hineinzieht — so ist es zwar schon eine Höhe des
Menschlichen, die theoretische und praktische Welt in ein Schema von
uns aus zu zwingen; gröſser aber ist es, die eignen Gesetze und Forde-
rungen der Dinge anerkennend und ihnen folgsam, sie erst so in
unser Wesen und Wirken einzubauen. Denn das beweist nicht nur
eine sehr viel gröſsere Expansionsfähigkeit und Bildsamkeit des letzteren,
sondern es kann auch den Reichtum und die Möglichkeiten der Dinge

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[528/0552] weder in Kreisform oder in quadratischer Form werden die Ort- schaften oder Gebäude angeordnet. In Campanellas Sonnenstaat ist der Plan der Reichshauptstadt mathematisch abgezirkelt, ebenso wie die Tageseinteilung der Bürger und die Abstufung ihrer Rechte und Pflichten. Rabelais’ Orden der Thelemiten lehrt, in Opposition zu Morus, einen so absoluten Individualismus, daſs es in diesem Utopien keine Uhr geben darf, sondern alles nach Bedürfnis und Gelegenheit geschehen soll; aber der Stil der unbedingten Ausgerechnetheit und Rationalisierung des Lebens verlockt ihn doch, die Gebäulichkeiten seines Idealstaates genau symmetrisch anzuordnen: ein Riesenbau in Form eines Sechsecks, in jeder Ecke ein Turm, sechzig Schritt im Durchmesser. Dieser allgemeine Zug sozialistischer Pläne zeugt nur in roher Form für die tiefe Anziehungskraft, die der Gedanke der harmonischen, innerlich ausgeglichenen, allen Widerstand der irratio- nalen Individualität überwindenden Organisation des menschlichen Thuns ausübt. Die symmetrisch-rhythmische Gestaltung bietet sich so als die erste und einfachste dar, mit der der Verstand den Stoff des Lebens gleichsam stilisiert, beherrschbar und assimilierbar macht, als das erste Schema, vermöge dessen er sich in die Dinge hinein- bilden kann. Aber eben damit ist auch die Grenze für Sinn und Recht dieses Lebensstiles angedeutet. Denn nach zwei Seiten hin wirkt er vergewaltigend: einmal auf das Subjekt, dessen Impulse und Bedürfnisse doch nicht in prästabilierter, sondern jedesmal nur glück- lich-zufälliger Harmonie mit jenem feststehenden Schema auftreten; und nicht weniger der äuſseren Wirklichkeit gegenüber, deren Kräfte und Verhältnisse zu uns sich nur gewaltsam in einen so ein- fachen Rahmen fassen lassen. Alle Gewaltthätigkeiten und Inadäquat- heiten, die die Systematik gegenüber der Wirklichkeit mit sich bringt, kommen auch der Rhythmisierung und Symmetrie in der Gestaltung der Lebensinhalte zu. Wie es am Einzelmenschen zwar eine erhebliche Kraft verrät, wenn er Personen und Dinge sich assimiliert, indem er ihnen die Form und das Gesetz seines Wesens aufzwingt, wie aber der noch gröſsere Mensch den Dingen in ihrer Eigenart gerecht wird und sie grade mit dieser und gemäſs ihrer in den Kreis seiner Zwecke und seiner Macht hineinzieht — so ist es zwar schon eine Höhe des Menschlichen, die theoretische und praktische Welt in ein Schema von uns aus zu zwingen; gröſser aber ist es, die eignen Gesetze und Forde- rungen der Dinge anerkennend und ihnen folgsam, sie erst so in unser Wesen und Wirken einzubauen. Denn das beweist nicht nur eine sehr viel gröſsere Expansionsfähigkeit und Bildsamkeit des letzteren, sondern es kann auch den Reichtum und die Möglichkeiten der Dinge

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/552>, abgerufen am 22.11.2024.