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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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nungen fordert. Ich untersuche deshalb zunächst die psychologisch-
historische Bedeutung jener Rhythmik, wobei ich ihr rein physiologisch
veranlasstes Auftreten, das nur die Periodik der äusseren Natur wieder-
holt, ausser acht lasse.

Man kann den Rhythmus als die auf die Zeit übertragene Symmetrie
bezeichnen, wie die Symmetrie als Rhythmus im Raum. Wenn man
rhythmische Bewegungen in Linien zeichnet, so werden diese symme-
trisch; und umgekehrt: die Betrachtung des Symmetrischen ist ein
rhythmisches Vorstellen. Beides sind nur verschiedne Formen des-
selben Grundmotives. Wie in den Künsten des Ohres der Rhythmus,
so ist in denen des Auges die Symmetrie der Anfang aller Gestaltung
des Materiales. Um überhaupt in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu
bringen, muss man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Teile des
Ganzen untereinander ausgleichen, sie ebenmässig um einen Mittel-
punkt herum ordnen. Die formgebende Macht des Menschen gegen-
über der Zufälligkeit und Wirrnis der bloss natürlichen Gestaltung
wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art ver-
sinnlicht. Die Symmetrie ist der erste Kraftbeweis des Rationalismus,
mit dem er uns von der Sinnlosigkeit der Dinge und ihrem einfachen
Hinnehmen erlöst. Deshalb sind auch die Sprachen unkultivierter
Völker oft viel symmetrischer gebaut, als die Kultursprachen, und
sogar die soziale Struktur zeigt z. B. in den "Hundertschaften", die
das Organisationsprinzip der verschiedensten Völker niederer Stufe
bilden, die symmetrische Einteilung als einen ersten Versuch der
Intelligenz, die Massen in eine überschaubare und lenkbare Form zu
bringen. Die symmetrische Anordnung ist wie gesagt durchaus
rationalistischen Wesens, sie erleichtert die Beherrschung des Vielen
und der Vielen von einem Punkte aus. Die Anstösse setzen sich
länger, widerstandsloser, berechenbarer durch ein symmetrisch an-
geordnetes Medium fort, als wenn der innere Bau und die Grenzen
der Teile unregelmässig und fluktuierend sind. Wenn Dinge und
Menschen unter das Joch des Systems gebeugt -- d. h. symmetrisch
angeordnet -- sind, so wird der Verstand am schnellsten mit ihnen
fertig. Daher hat sowohl der Despotismus wie der Sozialismus be-
sonders starke Neigungen zu symmetrischen Konstruktionen der Ge-
sellschaft, beide, weil es sich für sie um eine starke Zentralisierung
der letzteren handelt, um derentwillen die Individualität der Elemente,
die Ungleichmässigkeit ihrer Formen und Verhältnisse zur Symmetrie
nivelliert werden muss. Das tritt rein äusserlich darin hervor, dass
sozialistische Utopien die lokalen Einzelheiten ihrer Idealstädte oder
-staaten immer nach dem Prinzip der Symmetrie konstruieren: ent-

nungen fordert. Ich untersuche deshalb zunächst die psychologisch-
historische Bedeutung jener Rhythmik, wobei ich ihr rein physiologisch
veranlaſstes Auftreten, das nur die Periodik der äuſseren Natur wieder-
holt, auſser acht lasse.

Man kann den Rhythmus als die auf die Zeit übertragene Symmetrie
bezeichnen, wie die Symmetrie als Rhythmus im Raum. Wenn man
rhythmische Bewegungen in Linien zeichnet, so werden diese symme-
trisch; und umgekehrt: die Betrachtung des Symmetrischen ist ein
rhythmisches Vorstellen. Beides sind nur verschiedne Formen des-
selben Grundmotives. Wie in den Künsten des Ohres der Rhythmus,
so ist in denen des Auges die Symmetrie der Anfang aller Gestaltung
des Materiales. Um überhaupt in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu
bringen, muſs man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Teile des
Ganzen untereinander ausgleichen, sie ebenmäſsig um einen Mittel-
punkt herum ordnen. Die formgebende Macht des Menschen gegen-
über der Zufälligkeit und Wirrnis der bloſs natürlichen Gestaltung
wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art ver-
sinnlicht. Die Symmetrie ist der erste Kraftbeweis des Rationalismus,
mit dem er uns von der Sinnlosigkeit der Dinge und ihrem einfachen
Hinnehmen erlöst. Deshalb sind auch die Sprachen unkultivierter
Völker oft viel symmetrischer gebaut, als die Kultursprachen, und
sogar die soziale Struktur zeigt z. B. in den „Hundertschaften“, die
das Organisationsprinzip der verschiedensten Völker niederer Stufe
bilden, die symmetrische Einteilung als einen ersten Versuch der
Intelligenz, die Massen in eine überschaubare und lenkbare Form zu
bringen. Die symmetrische Anordnung ist wie gesagt durchaus
rationalistischen Wesens, sie erleichtert die Beherrschung des Vielen
und der Vielen von einem Punkte aus. Die Anstöſse setzen sich
länger, widerstandsloser, berechenbarer durch ein symmetrisch an-
geordnetes Medium fort, als wenn der innere Bau und die Grenzen
der Teile unregelmäſsig und fluktuierend sind. Wenn Dinge und
Menschen unter das Joch des Systems gebeugt — d. h. symmetrisch
angeordnet — sind, so wird der Verstand am schnellsten mit ihnen
fertig. Daher hat sowohl der Despotismus wie der Sozialismus be-
sonders starke Neigungen zu symmetrischen Konstruktionen der Ge-
sellschaft, beide, weil es sich für sie um eine starke Zentralisierung
der letzteren handelt, um derentwillen die Individualität der Elemente,
die Ungleichmäſsigkeit ihrer Formen und Verhältnisse zur Symmetrie
nivelliert werden muſs. Das tritt rein äuſserlich darin hervor, daſs
sozialistische Utopien die lokalen Einzelheiten ihrer Idealstädte oder
-staaten immer nach dem Prinzip der Symmetrie konstruieren: ent-

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[527/0551] nungen fordert. Ich untersuche deshalb zunächst die psychologisch- historische Bedeutung jener Rhythmik, wobei ich ihr rein physiologisch veranlaſstes Auftreten, das nur die Periodik der äuſseren Natur wieder- holt, auſser acht lasse. Man kann den Rhythmus als die auf die Zeit übertragene Symmetrie bezeichnen, wie die Symmetrie als Rhythmus im Raum. Wenn man rhythmische Bewegungen in Linien zeichnet, so werden diese symme- trisch; und umgekehrt: die Betrachtung des Symmetrischen ist ein rhythmisches Vorstellen. Beides sind nur verschiedne Formen des- selben Grundmotives. Wie in den Künsten des Ohres der Rhythmus, so ist in denen des Auges die Symmetrie der Anfang aller Gestaltung des Materiales. Um überhaupt in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu bringen, muſs man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Teile des Ganzen untereinander ausgleichen, sie ebenmäſsig um einen Mittel- punkt herum ordnen. Die formgebende Macht des Menschen gegen- über der Zufälligkeit und Wirrnis der bloſs natürlichen Gestaltung wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art ver- sinnlicht. Die Symmetrie ist der erste Kraftbeweis des Rationalismus, mit dem er uns von der Sinnlosigkeit der Dinge und ihrem einfachen Hinnehmen erlöst. Deshalb sind auch die Sprachen unkultivierter Völker oft viel symmetrischer gebaut, als die Kultursprachen, und sogar die soziale Struktur zeigt z. B. in den „Hundertschaften“, die das Organisationsprinzip der verschiedensten Völker niederer Stufe bilden, die symmetrische Einteilung als einen ersten Versuch der Intelligenz, die Massen in eine überschaubare und lenkbare Form zu bringen. Die symmetrische Anordnung ist wie gesagt durchaus rationalistischen Wesens, sie erleichtert die Beherrschung des Vielen und der Vielen von einem Punkte aus. Die Anstöſse setzen sich länger, widerstandsloser, berechenbarer durch ein symmetrisch an- geordnetes Medium fort, als wenn der innere Bau und die Grenzen der Teile unregelmäſsig und fluktuierend sind. Wenn Dinge und Menschen unter das Joch des Systems gebeugt — d. h. symmetrisch angeordnet — sind, so wird der Verstand am schnellsten mit ihnen fertig. Daher hat sowohl der Despotismus wie der Sozialismus be- sonders starke Neigungen zu symmetrischen Konstruktionen der Ge- sellschaft, beide, weil es sich für sie um eine starke Zentralisierung der letzteren handelt, um derentwillen die Individualität der Elemente, die Ungleichmäſsigkeit ihrer Formen und Verhältnisse zur Symmetrie nivelliert werden muſs. Das tritt rein äuſserlich darin hervor, daſs sozialistische Utopien die lokalen Einzelheiten ihrer Idealstädte oder -staaten immer nach dem Prinzip der Symmetrie konstruieren: ent-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/551>, abgerufen am 25.04.2024.