ihrer Ratlosigkeit verlieren. Dass sich Beweis und Gegenbeweis mit gleicher Plausibilität an jede Beantwortung derselben knüpfen lässt, liegt vielleicht oft daran, dass beide gar nicht denselben Gegenstand haben. So kann man z. B. mit demselben Recht den Fortschritt wie die Un- veränderlichkeit in der sittlichen Verfassung behaupten, wenn man einmal auf die festgewordenen Prinzipien, die Organisationen, die in das Bewusstsein der Gesamtheit aufgestiegenen Imperative hinsieht, das andre Mal auf das Verhältnis der Einzelpersonen zu diesen objek- tiven Idealen, die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit, mit der sich das Subjekt in sittlicher Hinsicht benimmt. Fortschritte und Stagna- tion können so unmittelbar nebeneinander liegen, und zwar nicht nur in verschiednen Provinzen des geschichtlichen Lebens, sondern in einer und derselben, je nachdem man die Evolution der Subjekte oder die der Gebilde ins Auge fasst, die zwar aus den Beiträgen der Individuen entstanden sind, aber ein eignes, objektiv geistiges Leben gewonnen haben.
Nun sich neben die Möglichkeit, dass die Entwicklung des objek- tiven Geistes die des subjektiven überhole, die entgegengesetzte gestellt hat, blicke ich noch einmal auf die Bedeutung der Arbeitsteilung für die Bildung der ersteren zurück. Jene doppelte Möglichkeit ergiebt sich, kurz zusammengefasst, auf folgende Weise. Dass der in Pro- duktionen irgendwelcher Art vergegenständlichte Geist dem einzelnen Individuum überlegen ist, liegt an der Komplikation der Herstellungs- weisen, die ausserordentlich viel historische und sachliche Bedingungen, Vor- und Mitarbeiter voraussetzen. Dadurch kann das Produkt Energien, Qualitäten, Steigerungen in sich sammeln, die ganz ausserhalb des einzelnen Produzenten liegen. Dies aber wird insbesondere in der spezifisch modernen Technik als Folge der Arbeitsteilung auftreten. Solange das Produkt im wesentlichen von einem einzelnen Produzenten oder durch eine wenig spezialisierte Kooperation hergestellt wurde, konnte der in ihm objektivierte Gehalt an Geist und Kraft den der Subjekte nicht erheblich übersteigen. Erst eine raffinierte Arbeits- teilung macht das einzelne Produkt zur Sammelstelle von Kräften, die aus einer sehr grossen Anzahl von Individuen auserlesen sind; so dass es, als Einheit betrachtet und mit irgendwelchem Einzelindividuum ver- glichen, dieses jedenfalls nach einer ganzen Reihe von Seiten hin über- ragen muss; und diese Aufhäufung von Eigenschaften und Vollkommen- heiten an dem Objekt, das ihre Synthese bildet, geht ins unbegrenzte, während der Ausbau der Individualitäten für jeden gegebenen Zeit- abschnitt an der Naturbestimmtheit derselben eine unverrückbare Schranke findet. Aber wenn die Thatsache, dass das objektive Werk
ihrer Ratlosigkeit verlieren. Daſs sich Beweis und Gegenbeweis mit gleicher Plausibilität an jede Beantwortung derselben knüpfen läſst, liegt vielleicht oft daran, daſs beide gar nicht denselben Gegenstand haben. So kann man z. B. mit demselben Recht den Fortschritt wie die Un- veränderlichkeit in der sittlichen Verfassung behaupten, wenn man einmal auf die festgewordenen Prinzipien, die Organisationen, die in das Bewuſstsein der Gesamtheit aufgestiegenen Imperative hinsieht, das andre Mal auf das Verhältnis der Einzelpersonen zu diesen objek- tiven Idealen, die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit, mit der sich das Subjekt in sittlicher Hinsicht benimmt. Fortschritte und Stagna- tion können so unmittelbar nebeneinander liegen, und zwar nicht nur in verschiednen Provinzen des geschichtlichen Lebens, sondern in einer und derselben, je nachdem man die Evolution der Subjekte oder die der Gebilde ins Auge faſst, die zwar aus den Beiträgen der Individuen entstanden sind, aber ein eignes, objektiv geistiges Leben gewonnen haben.
Nun sich neben die Möglichkeit, daſs die Entwicklung des objek- tiven Geistes die des subjektiven überhole, die entgegengesetzte gestellt hat, blicke ich noch einmal auf die Bedeutung der Arbeitsteilung für die Bildung der ersteren zurück. Jene doppelte Möglichkeit ergiebt sich, kurz zusammengefaſst, auf folgende Weise. Daſs der in Pro- duktionen irgendwelcher Art vergegenständlichte Geist dem einzelnen Individuum überlegen ist, liegt an der Komplikation der Herstellungs- weisen, die auſserordentlich viel historische und sachliche Bedingungen, Vor- und Mitarbeiter voraussetzen. Dadurch kann das Produkt Energien, Qualitäten, Steigerungen in sich sammeln, die ganz auſserhalb des einzelnen Produzenten liegen. Dies aber wird insbesondere in der spezifisch modernen Technik als Folge der Arbeitsteilung auftreten. Solange das Produkt im wesentlichen von einem einzelnen Produzenten oder durch eine wenig spezialisierte Kooperation hergestellt wurde, konnte der in ihm objektivierte Gehalt an Geist und Kraft den der Subjekte nicht erheblich übersteigen. Erst eine raffinierte Arbeits- teilung macht das einzelne Produkt zur Sammelstelle von Kräften, die aus einer sehr groſsen Anzahl von Individuen auserlesen sind; so daſs es, als Einheit betrachtet und mit irgendwelchem Einzelindividuum ver- glichen, dieses jedenfalls nach einer ganzen Reihe von Seiten hin über- ragen muſs; und diese Aufhäufung von Eigenschaften und Vollkommen- heiten an dem Objekt, das ihre Synthese bildet, geht ins unbegrenzte, während der Ausbau der Individualitäten für jeden gegebenen Zeit- abschnitt an der Naturbestimmtheit derselben eine unverrückbare Schranke findet. Aber wenn die Thatsache, daſs das objektive Werk
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[498/0522]
ihrer Ratlosigkeit verlieren. Daſs sich Beweis und Gegenbeweis mit
gleicher Plausibilität an jede Beantwortung derselben knüpfen läſst, liegt
vielleicht oft daran, daſs beide gar nicht denselben Gegenstand haben.
So kann man z. B. mit demselben Recht den Fortschritt wie die Un-
veränderlichkeit in der sittlichen Verfassung behaupten, wenn man
einmal auf die festgewordenen Prinzipien, die Organisationen, die in
das Bewuſstsein der Gesamtheit aufgestiegenen Imperative hinsieht,
das andre Mal auf das Verhältnis der Einzelpersonen zu diesen objek-
tiven Idealen, die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit, mit der sich
das Subjekt in sittlicher Hinsicht benimmt. Fortschritte und Stagna-
tion können so unmittelbar nebeneinander liegen, und zwar nicht nur
in verschiednen Provinzen des geschichtlichen Lebens, sondern in einer
und derselben, je nachdem man die Evolution der Subjekte oder die
der Gebilde ins Auge faſst, die zwar aus den Beiträgen der Individuen
entstanden sind, aber ein eignes, objektiv geistiges Leben gewonnen
haben.
Nun sich neben die Möglichkeit, daſs die Entwicklung des objek-
tiven Geistes die des subjektiven überhole, die entgegengesetzte gestellt
hat, blicke ich noch einmal auf die Bedeutung der Arbeitsteilung für
die Bildung der ersteren zurück. Jene doppelte Möglichkeit ergiebt
sich, kurz zusammengefaſst, auf folgende Weise. Daſs der in Pro-
duktionen irgendwelcher Art vergegenständlichte Geist dem einzelnen
Individuum überlegen ist, liegt an der Komplikation der Herstellungs-
weisen, die auſserordentlich viel historische und sachliche Bedingungen,
Vor- und Mitarbeiter voraussetzen. Dadurch kann das Produkt Energien,
Qualitäten, Steigerungen in sich sammeln, die ganz auſserhalb des
einzelnen Produzenten liegen. Dies aber wird insbesondere in der
spezifisch modernen Technik als Folge der Arbeitsteilung auftreten.
Solange das Produkt im wesentlichen von einem einzelnen Produzenten
oder durch eine wenig spezialisierte Kooperation hergestellt wurde,
konnte der in ihm objektivierte Gehalt an Geist und Kraft den der
Subjekte nicht erheblich übersteigen. Erst eine raffinierte Arbeits-
teilung macht das einzelne Produkt zur Sammelstelle von Kräften, die
aus einer sehr groſsen Anzahl von Individuen auserlesen sind; so daſs
es, als Einheit betrachtet und mit irgendwelchem Einzelindividuum ver-
glichen, dieses jedenfalls nach einer ganzen Reihe von Seiten hin über-
ragen muſs; und diese Aufhäufung von Eigenschaften und Vollkommen-
heiten an dem Objekt, das ihre Synthese bildet, geht ins unbegrenzte,
während der Ausbau der Individualitäten für jeden gegebenen Zeit-
abschnitt an der Naturbestimmtheit derselben eine unverrückbare
Schranke findet. Aber wenn die Thatsache, daſs das objektive Werk
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/522>, abgerufen am 22.11.2024.
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