der Betriebe. Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst, wenn die dahin drängenden Momente sich zu Massen angehäuft haben; bis dahin bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter der Entwicklung der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück. Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauen- bewegung. Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben ausserordentlich viele hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den Frauen oblagen, ausserhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger und zweckmässiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen, ohne dass so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die leer- gewordne Stelle eingeschoben hätten; die vielfache "Unbefriedigtheit" der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurück- schlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr teils gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen ausserhalb des Hauses -- ist der Erfolg davon, dass die Technik in ihrer Objektivität einen eignen und schnelleren Gang genommen hat, als die Entwick- lungsmöglichkeiten der Personen. Aus einem entsprechenden Ver- hältnis soll der vielfach unbefriedigende Charakter moderner Ehen folgen. Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung der Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit über jene hinausgewachsen sei. Die Individuen wären jetzt auf eine Freiheit, ein Verständnis, eine Gleichheit der Rechte und Ausbildungen angelegt, für die das eheliche Leben, wie es nun einmal traditionell und objektiv gefestigt ist, keinen rechten Raum gebe. Der objektive Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei hinter den sub- jektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben. Nicht anders das Recht: von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schliesslich wie eine ewige Krank- heit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. So- bald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht besser. Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge, mit der die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen, so dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von
Simmel, Philosophie des Geldes. 32
der Betriebe. Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst, wenn die dahin drängenden Momente sich zu Massen angehäuft haben; bis dahin bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter der Entwicklung der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück. Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauen- bewegung. Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben auſserordentlich viele hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den Frauen oblagen, auſserhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger und zweckmäſsiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen, ohne daſs so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die leer- gewordne Stelle eingeschoben hätten; die vielfache „Unbefriedigtheit“ der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurück- schlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr teils gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen auſserhalb des Hauses — ist der Erfolg davon, daſs die Technik in ihrer Objektivität einen eignen und schnelleren Gang genommen hat, als die Entwick- lungsmöglichkeiten der Personen. Aus einem entsprechenden Ver- hältnis soll der vielfach unbefriedigende Charakter moderner Ehen folgen. Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung der Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit über jene hinausgewachsen sei. Die Individuen wären jetzt auf eine Freiheit, ein Verständnis, eine Gleichheit der Rechte und Ausbildungen angelegt, für die das eheliche Leben, wie es nun einmal traditionell und objektiv gefestigt ist, keinen rechten Raum gebe. Der objektive Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei hinter den sub- jektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben. Nicht anders das Recht: von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schlieſslich wie eine ewige Krank- heit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. So- bald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht besser. Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge, mit der die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen, so dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von
Simmel, Philosophie des Geldes. 32
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0521"n="497"/>
der Betriebe. Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst,<lb/>
wenn die dahin drängenden Momente sich zu Massen angehäuft haben;<lb/>
bis dahin bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter<lb/>
der Entwicklung der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück.<lb/>
Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauen-<lb/>
bewegung. Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben<lb/>
auſserordentlich viele hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den<lb/>
Frauen oblagen, auſserhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger<lb/>
und zweckmäſsiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen<lb/>
Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen,<lb/>
ohne daſs so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die leer-<lb/>
gewordne Stelle eingeschoben hätten; die vielfache „Unbefriedigtheit“<lb/>
der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurück-<lb/>
schlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr teils<lb/>
gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen auſserhalb des<lb/>
Hauses — ist der Erfolg davon, daſs die Technik in ihrer Objektivität<lb/>
einen eignen und schnelleren Gang genommen hat, als die Entwick-<lb/>
lungsmöglichkeiten der Personen. Aus einem entsprechenden Ver-<lb/>
hältnis soll der vielfach unbefriedigende Charakter moderner Ehen<lb/>
folgen. Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und<lb/>
Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung<lb/>
der Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit<lb/>
über jene hinausgewachsen sei. Die Individuen wären jetzt auf eine<lb/>
Freiheit, ein Verständnis, eine Gleichheit der Rechte und Ausbildungen<lb/>
angelegt, für die das eheliche Leben, wie es nun einmal traditionell<lb/>
und objektiv gefestigt ist, keinen rechten Raum gebe. Der objektive<lb/>
Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei hinter den sub-<lb/>
jektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben. Nicht anders das<lb/>
Recht: von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in<lb/>
einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen<lb/>
Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen<lb/>
empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber<lb/>
jene Starrheit, durch die es sich schlieſslich wie eine ewige Krank-<lb/>
heit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. So-<lb/>
bald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen<lb/>
kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen<lb/>
gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht<lb/>
besser. Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge,<lb/>
mit der die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der<lb/>
geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen,<lb/>
so dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Simmel</hi>, Philosophie des Geldes. 32</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[497/0521]
der Betriebe. Die erforderliche Umänderung dieser erfolgt immer erst,
wenn die dahin drängenden Momente sich zu Massen angehäuft haben;
bis dahin bleibt die sachliche Organisierung der Produktion hinter
der Entwicklung der individuellen wirtschaftlichen Energien zurück.
Nach diesem Schema verlaufen viele Veranlassungen zur Frauen-
bewegung. Die Fortschritte der modernen industriellen Technik haben
auſserordentlich viele hauswirtschaftliche Thätigkeiten, die früher den
Frauen oblagen, auſserhalb des Hauses verlegt, wo ihre Objekte billiger
und zweckmäſsiger hergestellt werden. Dadurch ist nun sehr vielen
Frauen der bürgerlichen Klasse der aktive Lebensinhalt genommen,
ohne daſs so rasch sich andere Thätigkeiten und Ziele an die leer-
gewordne Stelle eingeschoben hätten; die vielfache „Unbefriedigtheit“
der modernen Frauen, die Unverbrauchtheit ihrer Kräfte, die zurück-
schlagend jede mögliche Störung oder Zerstörung bewirken, ihr teils
gesundes, teils krankhaftes Suchen nach Bewährungen auſserhalb des
Hauses — ist der Erfolg davon, daſs die Technik in ihrer Objektivität
einen eignen und schnelleren Gang genommen hat, als die Entwick-
lungsmöglichkeiten der Personen. Aus einem entsprechenden Ver-
hältnis soll der vielfach unbefriedigende Charakter moderner Ehen
folgen. Die festgewordenen, die Individuen zwingenden Formen und
Lebensgewohnheiten der Ehe stünden einer persönlichen Entwicklung
der Kontrahenten, insbesondere der der Frau gegenüber, die weit
über jene hinausgewachsen sei. Die Individuen wären jetzt auf eine
Freiheit, ein Verständnis, eine Gleichheit der Rechte und Ausbildungen
angelegt, für die das eheliche Leben, wie es nun einmal traditionell
und objektiv gefestigt ist, keinen rechten Raum gebe. Der objektive
Geist der Ehe, so könnte man dies formulieren, sei hinter den sub-
jektiven Geistern an Entwicklung zurückgeblieben. Nicht anders das
Recht: von gewissen Grundthatsachen aus logisch entwickelt, in
einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen
Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen
empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber
jene Starrheit, durch die es sich schlieſslich wie eine ewige Krank-
heit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohlthat zur Plage wird. So-
bald die religiösen Impulse sich zu einem Schatz bestimmter Dogmen
kristallisiert haben und diese arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen
gesonderte, Körperschaft getragen werden, geht es der Religion nicht
besser. Behält man diese relative Selbständigkeit des Lebens im Auge,
mit der die objektiv gewordenen Kulturgebilde, der Niederschlag der
geschichtlichen Elementarbewegungen, den Subjekten gegenüberstehen,
so dürfte die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte viel von
Simmel, Philosophie des Geldes. 32
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/521>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.