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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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ist nichts als eine psychologische Hypothese. Damit einem der Inhalt
der Geschichte zum Eigentum werde, bedarf es deshalb einer Bildsamkeit,
Nachbildsamkeit der auffassenden Seele, einer innerlichen Sublimierung
der Variabilität. Die historisierenden Neigungen unseres Jahrhunderts,
seine unvergleichliche Fähigkeit, das Fernliegendste -- im zeitlichen
wie im räumlichen Sinne -- zu reproduzieren und lebendig zu machen,
ist nur die Innenseite der allgemeinen Steigerung seiner Anpassungs-
fähigkeit und ausgreifenden Beweglichkeit. Daher die verwirrende
Mannigfaltigkeit der Stile, die von unserer Kultur aufgenommen,
dargestellt, nachgefühlt werden. Wenn nun jeder Stil wie eine Sprache
für sich ist, die besondere Laute, besondere Flexionen, eine besondere
Syntax hat, um das Leben auszudrücken, so tritt er unserem Bewusst-
sein offenbar so lange nicht als eine autonome Potenz, die ein eignes
Leben lebt, entgegen, als wir nur einen einzigen Stil kennen, in dem
wir uns und unsere Umgebung gestalten. Niemand empfindet an seiner
Muttersprache, solange er sie unbefangen redet, eine objektive Gesetz-
mässigkeit, an die er sich wie an ein Jenseits seines Subjekts zu
wenden hat, um von ihr die nach unabhängigen Normen geprägte
Ausdrucksmöglichkeit für seine Innerlichkeit zu entlehnen. Vielmehr,
Ausgedrücktes und Ausdruck sind in diesem Fall unmittelbar eines,
und als ein selbständiges, uns gegenüberstehendes Sein empfinden wir
nicht nur die Muttersprache, sondern die Sprache überhaupt erst, wenn
wir fremde Sprachen kennen lernen. So werden Menschen eines ganz
einheitlichen, ihr ganzes Leben umschliessenden Stiles denselben auch
in fragloser Einheit mit den Inhalten desselben vorstellen. Da
sich alles, was sie bilden oder anschauen, ganz selbstverständlich in
ihm ausdrückt, so liegt gar keine psychologische Veranlassung vor, ihn
von den Stoffen dieses Bildens und Anschauens gedanklich zu trennen
und als ein Gebilde eigner Provenienz dem Ich gegenüber zu stellen.
Erst eine Mehrheit der gebotenen Stile wird den einzelnen von seinem
Inhalt lösen, derart, dass seiner Selbständigkeit und von uns un-
abhängigen Bedeutsamkeit unsere Freiheit, ihn oder einen anderen zu
wählen, gegenübersteht. Durch die Differenzierung der Stile wird
jeder einzelne und damit der Stil überhaupt zu etwas objektivem,
dessen Gültigkeit vom Subjekte und dessen Interessen, Wirksamkeiten,
Gefallen oder Missfallen unabhängig ist. Dass die sämtlichen An-
schauungsinhalte unseres Kulturlebens in eine Vielheit von Stilen aus-
einandergegangen sind, löst jenes ursprüngliche Verhältnis zu ihnen,
in dem Subjekt und Objekt noch gleichsam ungeschieden ruhen, und
stellt uns einer Welt nach eignen Normen entwickelter Ausdrucks-
möglichkeiten, der Formen, das Leben überhaupt auszudrücken, gegen-

ist nichts als eine psychologische Hypothese. Damit einem der Inhalt
der Geschichte zum Eigentum werde, bedarf es deshalb einer Bildsamkeit,
Nachbildsamkeit der auffassenden Seele, einer innerlichen Sublimierung
der Variabilität. Die historisierenden Neigungen unseres Jahrhunderts,
seine unvergleichliche Fähigkeit, das Fernliegendste — im zeitlichen
wie im räumlichen Sinne — zu reproduzieren und lebendig zu machen,
ist nur die Innenseite der allgemeinen Steigerung seiner Anpassungs-
fähigkeit und ausgreifenden Beweglichkeit. Daher die verwirrende
Mannigfaltigkeit der Stile, die von unserer Kultur aufgenommen,
dargestellt, nachgefühlt werden. Wenn nun jeder Stil wie eine Sprache
für sich ist, die besondere Laute, besondere Flexionen, eine besondere
Syntax hat, um das Leben auszudrücken, so tritt er unserem Bewuſst-
sein offenbar so lange nicht als eine autonome Potenz, die ein eignes
Leben lebt, entgegen, als wir nur einen einzigen Stil kennen, in dem
wir uns und unsere Umgebung gestalten. Niemand empfindet an seiner
Muttersprache, solange er sie unbefangen redet, eine objektive Gesetz-
mäſsigkeit, an die er sich wie an ein Jenseits seines Subjekts zu
wenden hat, um von ihr die nach unabhängigen Normen geprägte
Ausdrucksmöglichkeit für seine Innerlichkeit zu entlehnen. Vielmehr,
Ausgedrücktes und Ausdruck sind in diesem Fall unmittelbar eines,
und als ein selbständiges, uns gegenüberstehendes Sein empfinden wir
nicht nur die Muttersprache, sondern die Sprache überhaupt erst, wenn
wir fremde Sprachen kennen lernen. So werden Menschen eines ganz
einheitlichen, ihr ganzes Leben umschlieſsenden Stiles denselben auch
in fragloser Einheit mit den Inhalten desselben vorstellen. Da
sich alles, was sie bilden oder anschauen, ganz selbstverständlich in
ihm ausdrückt, so liegt gar keine psychologische Veranlassung vor, ihn
von den Stoffen dieses Bildens und Anschauens gedanklich zu trennen
und als ein Gebilde eigner Provenienz dem Ich gegenüber zu stellen.
Erst eine Mehrheit der gebotenen Stile wird den einzelnen von seinem
Inhalt lösen, derart, daſs seiner Selbständigkeit und von uns un-
abhängigen Bedeutsamkeit unsere Freiheit, ihn oder einen anderen zu
wählen, gegenübersteht. Durch die Differenzierung der Stile wird
jeder einzelne und damit der Stil überhaupt zu etwas objektivem,
dessen Gültigkeit vom Subjekte und dessen Interessen, Wirksamkeiten,
Gefallen oder Miſsfallen unabhängig ist. Daſs die sämtlichen An-
schauungsinhalte unseres Kulturlebens in eine Vielheit von Stilen aus-
einandergegangen sind, löst jenes ursprüngliche Verhältnis zu ihnen,
in dem Subjekt und Objekt noch gleichsam ungeschieden ruhen, und
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[495/0519] ist nichts als eine psychologische Hypothese. Damit einem der Inhalt der Geschichte zum Eigentum werde, bedarf es deshalb einer Bildsamkeit, Nachbildsamkeit der auffassenden Seele, einer innerlichen Sublimierung der Variabilität. Die historisierenden Neigungen unseres Jahrhunderts, seine unvergleichliche Fähigkeit, das Fernliegendste — im zeitlichen wie im räumlichen Sinne — zu reproduzieren und lebendig zu machen, ist nur die Innenseite der allgemeinen Steigerung seiner Anpassungs- fähigkeit und ausgreifenden Beweglichkeit. Daher die verwirrende Mannigfaltigkeit der Stile, die von unserer Kultur aufgenommen, dargestellt, nachgefühlt werden. Wenn nun jeder Stil wie eine Sprache für sich ist, die besondere Laute, besondere Flexionen, eine besondere Syntax hat, um das Leben auszudrücken, so tritt er unserem Bewuſst- sein offenbar so lange nicht als eine autonome Potenz, die ein eignes Leben lebt, entgegen, als wir nur einen einzigen Stil kennen, in dem wir uns und unsere Umgebung gestalten. Niemand empfindet an seiner Muttersprache, solange er sie unbefangen redet, eine objektive Gesetz- mäſsigkeit, an die er sich wie an ein Jenseits seines Subjekts zu wenden hat, um von ihr die nach unabhängigen Normen geprägte Ausdrucksmöglichkeit für seine Innerlichkeit zu entlehnen. Vielmehr, Ausgedrücktes und Ausdruck sind in diesem Fall unmittelbar eines, und als ein selbständiges, uns gegenüberstehendes Sein empfinden wir nicht nur die Muttersprache, sondern die Sprache überhaupt erst, wenn wir fremde Sprachen kennen lernen. So werden Menschen eines ganz einheitlichen, ihr ganzes Leben umschlieſsenden Stiles denselben auch in fragloser Einheit mit den Inhalten desselben vorstellen. Da sich alles, was sie bilden oder anschauen, ganz selbstverständlich in ihm ausdrückt, so liegt gar keine psychologische Veranlassung vor, ihn von den Stoffen dieses Bildens und Anschauens gedanklich zu trennen und als ein Gebilde eigner Provenienz dem Ich gegenüber zu stellen. Erst eine Mehrheit der gebotenen Stile wird den einzelnen von seinem Inhalt lösen, derart, daſs seiner Selbständigkeit und von uns un- abhängigen Bedeutsamkeit unsere Freiheit, ihn oder einen anderen zu wählen, gegenübersteht. Durch die Differenzierung der Stile wird jeder einzelne und damit der Stil überhaupt zu etwas objektivem, dessen Gültigkeit vom Subjekte und dessen Interessen, Wirksamkeiten, Gefallen oder Miſsfallen unabhängig ist. Daſs die sämtlichen An- schauungsinhalte unseres Kulturlebens in eine Vielheit von Stilen aus- einandergegangen sind, löst jenes ursprüngliche Verhältnis zu ihnen, in dem Subjekt und Objekt noch gleichsam ungeschieden ruhen, und stellt uns einer Welt nach eignen Normen entwickelter Ausdrucks- möglichkeiten, der Formen, das Leben überhaupt auszudrücken, gegen-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/519>, abgerufen am 22.11.2024.