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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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eigentlichen Variabilität ist. Unruhige, nach Abwechslung drängende
Klassen und Individuen finden in der Mode, der Wechsel- und Gegen-
satzform des Lebens, das Tempo ihrer eignen psychischen Bewegungen
wieder. Wenn die heutigen Moden lange nicht so extravagant und
kostspielig sind, wie die früherer Jahrhunderte, dafür aber sehr viel
kürzere Lebensdauer haben, so liegt dies daran, dass sie viel weitere
Kreise in ihren Bann ziehen, dass es den Tieferstehenden jetzt sehr
viel leichter gemacht werden muss, sie sich anzueignen, und dass ihr
eigentlicher Sitz der wohlhabende Bürgerstand geworden ist. Der Er-
folg dieses Umsichgreifens der Mode, sowohl in Hinsicht der Breite wie
ihres Tempos, ist, dass sie als eine selbständige Bewegung erscheint,
als eine objektive, durch eigne Kräfte entwickelte Macht, die ihren
Weg unabhängig von jedem Einzelnen geht. So lange die Moden --
und es handelt sich hier keineswegs nur um Kleidermoden -- noch
relativ längere Zeit dauerten und relativ enge Kreise zusammenhielten,
mochte es zu einem sozusagen persönlichen Verhältnis zwischen dem
Subjekt und den einzelnen Inhalten der Mode kommen. Die Schnellig-
keit ihres Wechsels -- also ihre Differenzierung im Nacheinander --
und der Umfang ihrer Verbreitung lösen diesen Konnex, und wie es
mit manchen anderen sozialen Palladien in der Neuzeit geht, so auch
hier: die Mode ist weniger auf den Einzelnen, der Einzelne weniger
auf die Mode angewiesen, ihre Inhalte entwickeln sich wie eine
evolutionistische Welt für sich.

Wenn so die Differenzierung allverbreiteter Kulturinhalte nach
den formalen Seiten des Neben- und Nacheinander sie zu einer
selbständigen Objektivität zu gestalten hilft, so will ich nun, drittens,
von den inhaltlich in diesem Sinne wirksamen Momenten ein ein-
zelnes anführen. Ich meine die Vielheit der Stile, mit denen die
täglich anschaubaren Objekte uns entgegentreten -- vom Häuserbau
bis zu Buchausstattungen, von Bildwerken bis zu Gartenanlagen und
Zimmereinrichtungen, in denen Renaissance und Japonismus, Barock
und Empire, Prärafaelitentum und realistische Zweckmässigkeit sich
nebeneinander anbauen. Dies ist der Erfolg der Ausbreitung unseres
historischen Wissens, welche nun wieder in Wechselwirkung mit jener
hervorgehobenen Variabilität des modernen Menschen steht. Zu allem
historischen Verständnis gehört eine Biegsamkeit der Seele, eine Fähig-
keit, sich in die von dem eignen Zustand abweichendsten seelischen
Verfassungen hineinzufühlen und sie in sich nachzuformen -- denn
alle Geschichte, mag sie noch so sehr von Sichtbarkeiten handeln, hat
Sinn und Verstandenwerden nur als Geschichte zum Grunde liegender
Interessen, Gefühle, Strebungen: selbst der historische Materialismus

eigentlichen Variabilität ist. Unruhige, nach Abwechslung drängende
Klassen und Individuen finden in der Mode, der Wechsel- und Gegen-
satzform des Lebens, das Tempo ihrer eignen psychischen Bewegungen
wieder. Wenn die heutigen Moden lange nicht so extravagant und
kostspielig sind, wie die früherer Jahrhunderte, dafür aber sehr viel
kürzere Lebensdauer haben, so liegt dies daran, daſs sie viel weitere
Kreise in ihren Bann ziehen, daſs es den Tieferstehenden jetzt sehr
viel leichter gemacht werden muſs, sie sich anzueignen, und daſs ihr
eigentlicher Sitz der wohlhabende Bürgerstand geworden ist. Der Er-
folg dieses Umsichgreifens der Mode, sowohl in Hinsicht der Breite wie
ihres Tempos, ist, daſs sie als eine selbständige Bewegung erscheint,
als eine objektive, durch eigne Kräfte entwickelte Macht, die ihren
Weg unabhängig von jedem Einzelnen geht. So lange die Moden —
und es handelt sich hier keineswegs nur um Kleidermoden — noch
relativ längere Zeit dauerten und relativ enge Kreise zusammenhielten,
mochte es zu einem sozusagen persönlichen Verhältnis zwischen dem
Subjekt und den einzelnen Inhalten der Mode kommen. Die Schnellig-
keit ihres Wechsels — also ihre Differenzierung im Nacheinander —
und der Umfang ihrer Verbreitung lösen diesen Konnex, und wie es
mit manchen anderen sozialen Palladien in der Neuzeit geht, so auch
hier: die Mode ist weniger auf den Einzelnen, der Einzelne weniger
auf die Mode angewiesen, ihre Inhalte entwickeln sich wie eine
evolutionistische Welt für sich.

Wenn so die Differenzierung allverbreiteter Kulturinhalte nach
den formalen Seiten des Neben- und Nacheinander sie zu einer
selbständigen Objektivität zu gestalten hilft, so will ich nun, drittens,
von den inhaltlich in diesem Sinne wirksamen Momenten ein ein-
zelnes anführen. Ich meine die Vielheit der Stile, mit denen die
täglich anschaubaren Objekte uns entgegentreten — vom Häuserbau
bis zu Buchausstattungen, von Bildwerken bis zu Gartenanlagen und
Zimmereinrichtungen, in denen Renaissance und Japonismus, Barock
und Empire, Prärafaelitentum und realistische Zweckmäſsigkeit sich
nebeneinander anbauen. Dies ist der Erfolg der Ausbreitung unseres
historischen Wissens, welche nun wieder in Wechselwirkung mit jener
hervorgehobenen Variabilität des modernen Menschen steht. Zu allem
historischen Verständnis gehört eine Biegsamkeit der Seele, eine Fähig-
keit, sich in die von dem eignen Zustand abweichendsten seelischen
Verfassungen hineinzufühlen und sie in sich nachzuformen — denn
alle Geschichte, mag sie noch so sehr von Sichtbarkeiten handeln, hat
Sinn und Verstandenwerden nur als Geschichte zum Grunde liegender
Interessen, Gefühle, Strebungen: selbst der historische Materialismus

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[494/0518] eigentlichen Variabilität ist. Unruhige, nach Abwechslung drängende Klassen und Individuen finden in der Mode, der Wechsel- und Gegen- satzform des Lebens, das Tempo ihrer eignen psychischen Bewegungen wieder. Wenn die heutigen Moden lange nicht so extravagant und kostspielig sind, wie die früherer Jahrhunderte, dafür aber sehr viel kürzere Lebensdauer haben, so liegt dies daran, daſs sie viel weitere Kreise in ihren Bann ziehen, daſs es den Tieferstehenden jetzt sehr viel leichter gemacht werden muſs, sie sich anzueignen, und daſs ihr eigentlicher Sitz der wohlhabende Bürgerstand geworden ist. Der Er- folg dieses Umsichgreifens der Mode, sowohl in Hinsicht der Breite wie ihres Tempos, ist, daſs sie als eine selbständige Bewegung erscheint, als eine objektive, durch eigne Kräfte entwickelte Macht, die ihren Weg unabhängig von jedem Einzelnen geht. So lange die Moden — und es handelt sich hier keineswegs nur um Kleidermoden — noch relativ längere Zeit dauerten und relativ enge Kreise zusammenhielten, mochte es zu einem sozusagen persönlichen Verhältnis zwischen dem Subjekt und den einzelnen Inhalten der Mode kommen. Die Schnellig- keit ihres Wechsels — also ihre Differenzierung im Nacheinander — und der Umfang ihrer Verbreitung lösen diesen Konnex, und wie es mit manchen anderen sozialen Palladien in der Neuzeit geht, so auch hier: die Mode ist weniger auf den Einzelnen, der Einzelne weniger auf die Mode angewiesen, ihre Inhalte entwickeln sich wie eine evolutionistische Welt für sich. Wenn so die Differenzierung allverbreiteter Kulturinhalte nach den formalen Seiten des Neben- und Nacheinander sie zu einer selbständigen Objektivität zu gestalten hilft, so will ich nun, drittens, von den inhaltlich in diesem Sinne wirksamen Momenten ein ein- zelnes anführen. Ich meine die Vielheit der Stile, mit denen die täglich anschaubaren Objekte uns entgegentreten — vom Häuserbau bis zu Buchausstattungen, von Bildwerken bis zu Gartenanlagen und Zimmereinrichtungen, in denen Renaissance und Japonismus, Barock und Empire, Prärafaelitentum und realistische Zweckmäſsigkeit sich nebeneinander anbauen. Dies ist der Erfolg der Ausbreitung unseres historischen Wissens, welche nun wieder in Wechselwirkung mit jener hervorgehobenen Variabilität des modernen Menschen steht. Zu allem historischen Verständnis gehört eine Biegsamkeit der Seele, eine Fähig- keit, sich in die von dem eignen Zustand abweichendsten seelischen Verfassungen hineinzufühlen und sie in sich nachzuformen — denn alle Geschichte, mag sie noch so sehr von Sichtbarkeiten handeln, hat Sinn und Verstandenwerden nur als Geschichte zum Grunde liegender Interessen, Gefühle, Strebungen: selbst der historische Materialismus

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/518>, abgerufen am 22.11.2024.