Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Alle Hingabe und Aufopferung scheint aus den irrationalen Kräften
des Gefühls und Willens zu fliessen, so dass die blossen Verstandes-
menschen dieselbe als einen Beweis mangelnder Klugheit zu ironi-
sieren oder als den Umweg eines versteckten Egoismus zu denunzieren
pflegen. Gewiss ist dies schon deshalb irrig, weil auch der egoistische
Wille eben Wille ist, so gut wie der altruistische, und so wenig wie
dieser aus dem blossen verstandesmässigen Denken herausgepresst
werden kann; dieses vielmehr kann, wie wir sahen, immer nur die
Mittel, für das eine wie für das andere, an die Hand geben, es steht
dem praktischen Zweck, der diese auswählt und verwirklicht, völlig
indifferent gegenüber. Allein da jene Verbindung der reinen Intellek-
tualität mit dem praktischen Egoismus nun einmal eine verbreitete
Vorstellung ist, so wird sie wohl, wenn auch nicht mit der angeblichen
logischen Unmittelbarkeit, so doch auf irgend welchen psychologischen
Umwegen irgend eine Wirklichkeit haben. Aber nicht nur der eigent-
lich ethische Egoismus, sondern auch der soziale Individualismus er-
scheint als das notwendige Korrelat der Intellektualität. Aller Kollek-
tivismus, der eine neue Lebenseinheit aus und über den Individuen
schafft, scheint dem nüchternen Verstande etwas Mystisches, ihm Un-
durchdringliches zu enthalten, sobald er es eben nicht in die blosse
Summe der Individuen auflösen kann -- wie die Lebenseinheit des
Organismus, soweit er ihn nicht als Mechanismus der Teile verstehen
kann. Darum ist mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der sich
zur Revolution aufgipfelte, ein strenger Individualismus verbunden, und
erst die Opposition gegen den ersteren, die von Herder über die Ro-
mantik führte, hat mit der Anerkennung der überintellektuellen Ge-
fühlspotenzen des Lebens auch die überindividuellen Kollektivitäten
als Einheiten und historische Wirklichkeiten anerkannt. Die All-
gemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem
sie für jede individuelle Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der
Gesellschaft hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen er-
scheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen,
ohne dass diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete über-
ginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Ein-
heit bildete. Endlich hat die innere Zugängigkeit und Nach-Denkbar-
keit theoretischer Erkenntnisse, die sich niemandem so prinzipiell ver-
sagen können, wie gewisse Gefühle und Wollungen es thun, eine Kehr-
seite, die ihr praktisches Resultat direkt umkehrt. Zunächst bewirkt
grade die allgemeine Zugängigkeit, dass Umstände ganz jenseits der
personalen Qualifikation über die thatsächliche Ausnutzung derselben
entscheiden: was zu dem ungeheuren Übergewicht des unintelligen-

Alle Hingabe und Aufopferung scheint aus den irrationalen Kräften
des Gefühls und Willens zu flieſsen, so daſs die bloſsen Verstandes-
menschen dieselbe als einen Beweis mangelnder Klugheit zu ironi-
sieren oder als den Umweg eines versteckten Egoismus zu denunzieren
pflegen. Gewiſs ist dies schon deshalb irrig, weil auch der egoistische
Wille eben Wille ist, so gut wie der altruistische, und so wenig wie
dieser aus dem bloſsen verstandesmäſsigen Denken herausgepreſst
werden kann; dieses vielmehr kann, wie wir sahen, immer nur die
Mittel, für das eine wie für das andere, an die Hand geben, es steht
dem praktischen Zweck, der diese auswählt und verwirklicht, völlig
indifferent gegenüber. Allein da jene Verbindung der reinen Intellek-
tualität mit dem praktischen Egoismus nun einmal eine verbreitete
Vorstellung ist, so wird sie wohl, wenn auch nicht mit der angeblichen
logischen Unmittelbarkeit, so doch auf irgend welchen psychologischen
Umwegen irgend eine Wirklichkeit haben. Aber nicht nur der eigent-
lich ethische Egoismus, sondern auch der soziale Individualismus er-
scheint als das notwendige Korrelat der Intellektualität. Aller Kollek-
tivismus, der eine neue Lebenseinheit aus und über den Individuen
schafft, scheint dem nüchternen Verstande etwas Mystisches, ihm Un-
durchdringliches zu enthalten, sobald er es eben nicht in die bloſse
Summe der Individuen auflösen kann — wie die Lebenseinheit des
Organismus, soweit er ihn nicht als Mechanismus der Teile verstehen
kann. Darum ist mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der sich
zur Revolution aufgipfelte, ein strenger Individualismus verbunden, und
erst die Opposition gegen den ersteren, die von Herder über die Ro-
mantik führte, hat mit der Anerkennung der überintellektuellen Ge-
fühlspotenzen des Lebens auch die überindividuellen Kollektivitäten
als Einheiten und historische Wirklichkeiten anerkannt. Die All-
gemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem
sie für jede individuelle Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der
Gesellschaft hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen er-
scheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen,
ohne daſs diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete über-
ginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Ein-
heit bildete. Endlich hat die innere Zugängigkeit und Nach-Denkbar-
keit theoretischer Erkenntnisse, die sich niemandem so prinzipiell ver-
sagen können, wie gewisse Gefühle und Wollungen es thun, eine Kehr-
seite, die ihr praktisches Resultat direkt umkehrt. Zunächst bewirkt
grade die allgemeine Zugängigkeit, daſs Umstände ganz jenseits der
personalen Qualifikation über die thatsächliche Ausnutzung derselben
entscheiden: was zu dem ungeheuren Übergewicht des unintelligen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0490" n="466"/>
Alle Hingabe und Aufopferung scheint aus den irrationalen Kräften<lb/>
des Gefühls und Willens zu flie&#x017F;sen, so da&#x017F;s die blo&#x017F;sen Verstandes-<lb/>
menschen dieselbe als einen Beweis mangelnder Klugheit zu ironi-<lb/>
sieren oder als den Umweg eines versteckten Egoismus zu denunzieren<lb/>
pflegen. Gewi&#x017F;s ist dies schon deshalb irrig, weil auch der egoistische<lb/>
Wille eben Wille ist, so gut wie der altruistische, und so wenig wie<lb/>
dieser aus dem blo&#x017F;sen verstandesmä&#x017F;sigen Denken herausgepre&#x017F;st<lb/>
werden kann; dieses vielmehr kann, wie wir sahen, immer nur die<lb/>
Mittel, für das eine wie für das andere, an die Hand geben, es steht<lb/>
dem praktischen Zweck, der diese auswählt und verwirklicht, völlig<lb/>
indifferent gegenüber. Allein da jene Verbindung der reinen Intellek-<lb/>
tualität mit dem praktischen Egoismus nun einmal eine verbreitete<lb/>
Vorstellung ist, so wird sie wohl, wenn auch nicht mit der angeblichen<lb/>
logischen Unmittelbarkeit, so doch auf irgend welchen psychologischen<lb/>
Umwegen irgend eine Wirklichkeit haben. Aber nicht nur der eigent-<lb/>
lich ethische Egoismus, sondern auch der soziale Individualismus er-<lb/>
scheint als das notwendige Korrelat der Intellektualität. Aller Kollek-<lb/>
tivismus, der eine neue Lebenseinheit aus und über den Individuen<lb/>
schafft, scheint dem nüchternen Verstande etwas Mystisches, ihm Un-<lb/>
durchdringliches zu enthalten, sobald er es eben nicht in die blo&#x017F;se<lb/>
Summe der Individuen auflösen kann &#x2014; wie die Lebenseinheit des<lb/>
Organismus, soweit er ihn nicht als Mechanismus der Teile verstehen<lb/>
kann. Darum ist mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der sich<lb/>
zur Revolution aufgipfelte, ein strenger Individualismus verbunden, und<lb/>
erst die Opposition gegen den ersteren, die von Herder über die Ro-<lb/>
mantik führte, hat mit der Anerkennung der überintellektuellen Ge-<lb/>
fühlspotenzen des Lebens auch die überindividuellen Kollektivitäten<lb/>
als Einheiten und historische Wirklichkeiten anerkannt. Die All-<lb/>
gemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem<lb/>
sie für jede individuelle Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der<lb/>
Gesellschaft hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen er-<lb/>
scheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen,<lb/>
ohne da&#x017F;s diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete über-<lb/>
ginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Ein-<lb/>
heit bildete. Endlich hat die innere Zugängigkeit und Nach-Denkbar-<lb/>
keit theoretischer Erkenntnisse, die sich niemandem so prinzipiell ver-<lb/>
sagen können, wie gewisse Gefühle und Wollungen es thun, eine Kehr-<lb/>
seite, die ihr praktisches Resultat direkt umkehrt. Zunächst bewirkt<lb/>
grade die allgemeine Zugängigkeit, da&#x017F;s Umstände ganz jenseits der<lb/>
personalen Qualifikation über die thatsächliche Ausnutzung derselben<lb/>
entscheiden: was zu dem ungeheuren Übergewicht des unintelligen-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[466/0490] Alle Hingabe und Aufopferung scheint aus den irrationalen Kräften des Gefühls und Willens zu flieſsen, so daſs die bloſsen Verstandes- menschen dieselbe als einen Beweis mangelnder Klugheit zu ironi- sieren oder als den Umweg eines versteckten Egoismus zu denunzieren pflegen. Gewiſs ist dies schon deshalb irrig, weil auch der egoistische Wille eben Wille ist, so gut wie der altruistische, und so wenig wie dieser aus dem bloſsen verstandesmäſsigen Denken herausgepreſst werden kann; dieses vielmehr kann, wie wir sahen, immer nur die Mittel, für das eine wie für das andere, an die Hand geben, es steht dem praktischen Zweck, der diese auswählt und verwirklicht, völlig indifferent gegenüber. Allein da jene Verbindung der reinen Intellek- tualität mit dem praktischen Egoismus nun einmal eine verbreitete Vorstellung ist, so wird sie wohl, wenn auch nicht mit der angeblichen logischen Unmittelbarkeit, so doch auf irgend welchen psychologischen Umwegen irgend eine Wirklichkeit haben. Aber nicht nur der eigent- lich ethische Egoismus, sondern auch der soziale Individualismus er- scheint als das notwendige Korrelat der Intellektualität. Aller Kollek- tivismus, der eine neue Lebenseinheit aus und über den Individuen schafft, scheint dem nüchternen Verstande etwas Mystisches, ihm Un- durchdringliches zu enthalten, sobald er es eben nicht in die bloſse Summe der Individuen auflösen kann — wie die Lebenseinheit des Organismus, soweit er ihn nicht als Mechanismus der Teile verstehen kann. Darum ist mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der sich zur Revolution aufgipfelte, ein strenger Individualismus verbunden, und erst die Opposition gegen den ersteren, die von Herder über die Ro- mantik führte, hat mit der Anerkennung der überintellektuellen Ge- fühlspotenzen des Lebens auch die überindividuellen Kollektivitäten als Einheiten und historische Wirklichkeiten anerkannt. Die All- gemeingültigkeit der Intellektualität ihren Inhalten nach wirkt, indem sie für jede individuelle Intelligenz gilt, auf eine Atomisierung der Gesellschaft hin, sowohl vermittels ihrer wie von ihr aus gesehen er- scheint jeder als ein in sich geschlossenes Element neben jedem anderen, ohne daſs diese abstrakte Allgemeinheit irgendwie in die konkrete über- ginge, in der der Einzelne erst mit den anderen zusammen eine Ein- heit bildete. Endlich hat die innere Zugängigkeit und Nach-Denkbar- keit theoretischer Erkenntnisse, die sich niemandem so prinzipiell ver- sagen können, wie gewisse Gefühle und Wollungen es thun, eine Kehr- seite, die ihr praktisches Resultat direkt umkehrt. Zunächst bewirkt grade die allgemeine Zugängigkeit, daſs Umstände ganz jenseits der personalen Qualifikation über die thatsächliche Ausnutzung derselben entscheiden: was zu dem ungeheuren Übergewicht des unintelligen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/490
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/490>, abgerufen am 10.05.2024.