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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Charakterlosigkeit. Wenn Charakter immer bedeutet, dass Personen
oder Dinge auf eine individuelle Daseinsart, im Unterschiede und unter
Ausschluss von allen anderen, entschieden festgelegt sind, so weiss der
Intellekt als solcher davon nichts: denn er ist der indifferente Spiegel
der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind, weil ihr
Recht hier in nichts anderem als in ihrem Wirklichsein besteht. Ge-
wiss sind auch die Intellektualitäten der Menschen charakteristisch
unterschieden; allein genau angesehen, sind dies entweder Unterschiede
des Grades: Tiefe oder Oberflächlichkeit, Weite oder Beschränktheit --
oder solche, die durch den Beisatz andrer Seelenenergien, des Fühlens
oder Wollens, entstehen. Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach,
ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich
erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden
Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist er-
sichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes. Wie es an und für
sich der mechanische Reflex der Wertverhältnisse der Dinge ist und
allen Parteien sich gleichmässig darbietet, so sind innerhalb des Geld-
geschäftes alle Personen gleichwertig, nicht, weil jede, sondern weil
keine etwas wert ist, sondern nur das Geld. Die Charakterlosigkeit
aber des Intellekts wie des Geldes pflegt über diesen reinen, negativen
Sinn hinauszuwachsen. Wir verlangen von allen Dingen -- viel-
leicht nicht immer mit sachlichem Recht -- Bestimmtheit des Cha-
rakters und verdenken es dem rein theoretischen Menschen, dass sein
Alles-Verstehen ihn bewegt, alles zu verzeihen -- eine Objektivi-
tät, die wohl einem Gotte, aber niemals einem Menschen zukäme, der
sich damit in offenbaren Widerspruch sowohl gegen die Hinweisungen
seiner Natur wie gegen seine Rolle in der Gesellschaft setze. So ver-
denken wir es der Geldwirtschaft, dass sie ihren zentralen Wert der
elendesten Machination als ein völlig nachgiebiges Werkzeug zur Ver-
fügung stellt; denn dadurch, dass sie es der hochsinnigsten Unter-
nehmung nicht weniger leiht, wird dies nicht gut gemacht, sondern
grade nur das völlig zufällige Verhältnis zwischen der Reihe der Geld-
operationen und der unserer höheren Wertbegriffe, die Sinnlosigkeit
des einen, wenn man es am anderen misst, in das hellste Licht ge-
stellt. Die eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens, die man der
Jetztzeit gegenüber der einseitigen Stärke und Schroffheit früherer
Epochen nachsagt; die Leichtigkeit intellektueller Verständigung, die
selbst zwischen Menschen divergentester Natur und Position besteht --
während selbst eine intellektuell so überragende und theoretisch so inter-
essierte Persönlichkeit wie Dante noch sagt, gewissen theoretischen Gegnern
dürfe man nicht mit Gründen, sondern nur mit dem Messer antworten;

Charakterlosigkeit. Wenn Charakter immer bedeutet, daſs Personen
oder Dinge auf eine individuelle Daseinsart, im Unterschiede und unter
Ausschluſs von allen anderen, entschieden festgelegt sind, so weiſs der
Intellekt als solcher davon nichts: denn er ist der indifferente Spiegel
der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind, weil ihr
Recht hier in nichts anderem als in ihrem Wirklichsein besteht. Ge-
wiſs sind auch die Intellektualitäten der Menschen charakteristisch
unterschieden; allein genau angesehen, sind dies entweder Unterschiede
des Grades: Tiefe oder Oberflächlichkeit, Weite oder Beschränktheit —
oder solche, die durch den Beisatz andrer Seelenenergien, des Fühlens
oder Wollens, entstehen. Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach,
ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich
erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden
Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist er-
sichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes. Wie es an und für
sich der mechanische Reflex der Wertverhältnisse der Dinge ist und
allen Parteien sich gleichmäſsig darbietet, so sind innerhalb des Geld-
geschäftes alle Personen gleichwertig, nicht, weil jede, sondern weil
keine etwas wert ist, sondern nur das Geld. Die Charakterlosigkeit
aber des Intellekts wie des Geldes pflegt über diesen reinen, negativen
Sinn hinauszuwachsen. Wir verlangen von allen Dingen — viel-
leicht nicht immer mit sachlichem Recht — Bestimmtheit des Cha-
rakters und verdenken es dem rein theoretischen Menschen, daſs sein
Alles-Verstehen ihn bewegt, alles zu verzeihen — eine Objektivi-
tät, die wohl einem Gotte, aber niemals einem Menschen zukäme, der
sich damit in offenbaren Widerspruch sowohl gegen die Hinweisungen
seiner Natur wie gegen seine Rolle in der Gesellschaft setze. So ver-
denken wir es der Geldwirtschaft, daſs sie ihren zentralen Wert der
elendesten Machination als ein völlig nachgiebiges Werkzeug zur Ver-
fügung stellt; denn dadurch, daſs sie es der hochsinnigsten Unter-
nehmung nicht weniger leiht, wird dies nicht gut gemacht, sondern
grade nur das völlig zufällige Verhältnis zwischen der Reihe der Geld-
operationen und der unserer höheren Wertbegriffe, die Sinnlosigkeit
des einen, wenn man es am anderen miſst, in das hellste Licht ge-
stellt. Die eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens, die man der
Jetztzeit gegenüber der einseitigen Stärke und Schroffheit früherer
Epochen nachsagt; die Leichtigkeit intellektueller Verständigung, die
selbst zwischen Menschen divergentester Natur und Position besteht —
während selbst eine intellektuell so überragende und theoretisch so inter-
essierte Persönlichkeit wie Dante noch sagt, gewissen theoretischen Gegnern
dürfe man nicht mit Gründen, sondern nur mit dem Messer antworten;

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[459/0483] Charakterlosigkeit. Wenn Charakter immer bedeutet, daſs Personen oder Dinge auf eine individuelle Daseinsart, im Unterschiede und unter Ausschluſs von allen anderen, entschieden festgelegt sind, so weiſs der Intellekt als solcher davon nichts: denn er ist der indifferente Spiegel der Wirklichkeit, in der alle Elemente gleichberechtigt sind, weil ihr Recht hier in nichts anderem als in ihrem Wirklichsein besteht. Ge- wiſs sind auch die Intellektualitäten der Menschen charakteristisch unterschieden; allein genau angesehen, sind dies entweder Unterschiede des Grades: Tiefe oder Oberflächlichkeit, Weite oder Beschränktheit — oder solche, die durch den Beisatz andrer Seelenenergien, des Fühlens oder Wollens, entstehen. Der Intellekt, seinem reinen Begriff nach, ist absolut charakterlos, nicht im Sinne des Mangels einer eigentlich erforderlichen Qualität, sondern weil er ganz jenseits der auswählenden Einseitigkeit steht, die den Charakter ausmacht. Eben dies ist er- sichtlich auch die Charakterlosigkeit des Geldes. Wie es an und für sich der mechanische Reflex der Wertverhältnisse der Dinge ist und allen Parteien sich gleichmäſsig darbietet, so sind innerhalb des Geld- geschäftes alle Personen gleichwertig, nicht, weil jede, sondern weil keine etwas wert ist, sondern nur das Geld. Die Charakterlosigkeit aber des Intellekts wie des Geldes pflegt über diesen reinen, negativen Sinn hinauszuwachsen. Wir verlangen von allen Dingen — viel- leicht nicht immer mit sachlichem Recht — Bestimmtheit des Cha- rakters und verdenken es dem rein theoretischen Menschen, daſs sein Alles-Verstehen ihn bewegt, alles zu verzeihen — eine Objektivi- tät, die wohl einem Gotte, aber niemals einem Menschen zukäme, der sich damit in offenbaren Widerspruch sowohl gegen die Hinweisungen seiner Natur wie gegen seine Rolle in der Gesellschaft setze. So ver- denken wir es der Geldwirtschaft, daſs sie ihren zentralen Wert der elendesten Machination als ein völlig nachgiebiges Werkzeug zur Ver- fügung stellt; denn dadurch, daſs sie es der hochsinnigsten Unter- nehmung nicht weniger leiht, wird dies nicht gut gemacht, sondern grade nur das völlig zufällige Verhältnis zwischen der Reihe der Geld- operationen und der unserer höheren Wertbegriffe, die Sinnlosigkeit des einen, wenn man es am anderen miſst, in das hellste Licht ge- stellt. Die eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens, die man der Jetztzeit gegenüber der einseitigen Stärke und Schroffheit früherer Epochen nachsagt; die Leichtigkeit intellektueller Verständigung, die selbst zwischen Menschen divergentester Natur und Position besteht — während selbst eine intellektuell so überragende und theoretisch so inter- essierte Persönlichkeit wie Dante noch sagt, gewissen theoretischen Gegnern dürfe man nicht mit Gründen, sondern nur mit dem Messer antworten;

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/483>, abgerufen am 22.11.2024.