familie wirtschaftlich vom "Geschlecht" emanzipiert und trat als selb- ständiges Vermögenssubjekt auf. Aber damit war auch die Differen- zierung beendet. Weder der Hausvater, noch Frau oder Kinder hatten scharf bestimmte individuelle Rechte an das Vermögen; es verblieb als Stock der Familiengenerationen. Die einzelnen Familienglieder waren nach dieser Richtung hin noch nicht individualisiert. Die Heraus- bildung der wirtschaftlichen Individualität beginnt hier also an dem Punkte, wo der Erbgang endet: an der Einzelfamilie, und hört dort wieder auf, wo er noch herrscht: innerhalb der Einzelfamilie; erst wo, wie in der Neuzeit, die Vererbung wesentlich bewegliches Ver- mögen betrifft, wird dieser Inhalt ihrer mit seinen individualistischen Konsequenzen freilich Herr über ihr formal anti-individualistisches Wesen. Ja selbst die Forderungen der Praxis können dieses oft nicht überwinden, wo es an dem Charakter des Grundbesitzes seine Stütze findet. Es könnte nämlich mancher Schattenseite unseres bäuerlichen Erbrechts in einzelnen Fällen abgeholfen werden, wenn die Bauern testierten. Allein das thun sie sehr selten. Das Testament ist zu individuell gegenüber der Intestaterbfolge. Die Verfügung über den Besitz nach ganz persönlichem, von der Üblichkeit und Allgemeinheit abweichendem Belieben ist ein zu starker Anspruch an die Differenziert- heit des Bauern. So dokumentiert sich überall die Immobilität des Besitzes, mag sie mit seiner Kollektivität oder seiner Erblichkeit ver- bunden sein, als das Hemmnis, dessen Zurückweichen einen proportio- nalen Fortschritt der Differenzierung und persönlichen Freiheit ge- stattet. Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist, muss es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch thatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den vereinheitlichenden Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten aus- strahlen, am entschiedensten bewirkt.
familie wirtschaftlich vom „Geschlecht“ emanzipiert und trat als selb- ständiges Vermögenssubjekt auf. Aber damit war auch die Differen- zierung beendet. Weder der Hausvater, noch Frau oder Kinder hatten scharf bestimmte individuelle Rechte an das Vermögen; es verblieb als Stock der Familiengenerationen. Die einzelnen Familienglieder waren nach dieser Richtung hin noch nicht individualisiert. Die Heraus- bildung der wirtschaftlichen Individualität beginnt hier also an dem Punkte, wo der Erbgang endet: an der Einzelfamilie, und hört dort wieder auf, wo er noch herrscht: innerhalb der Einzelfamilie; erst wo, wie in der Neuzeit, die Vererbung wesentlich bewegliches Ver- mögen betrifft, wird dieser Inhalt ihrer mit seinen individualistischen Konsequenzen freilich Herr über ihr formal anti-individualistisches Wesen. Ja selbst die Forderungen der Praxis können dieses oft nicht überwinden, wo es an dem Charakter des Grundbesitzes seine Stütze findet. Es könnte nämlich mancher Schattenseite unseres bäuerlichen Erbrechts in einzelnen Fällen abgeholfen werden, wenn die Bauern testierten. Allein das thun sie sehr selten. Das Testament ist zu individuell gegenüber der Intestaterbfolge. Die Verfügung über den Besitz nach ganz persönlichem, von der Üblichkeit und Allgemeinheit abweichendem Belieben ist ein zu starker Anspruch an die Differenziert- heit des Bauern. So dokumentiert sich überall die Immobilität des Besitzes, mag sie mit seiner Kollektivität oder seiner Erblichkeit ver- bunden sein, als das Hemmnis, dessen Zurückweichen einen proportio- nalen Fortschritt der Differenzierung und persönlichen Freiheit ge- stattet. Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist, muſs es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch thatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den vereinheitlichenden Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten aus- strahlen, am entschiedensten bewirkt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0388"n="364"/>
familie wirtschaftlich vom „Geschlecht“ emanzipiert und trat als selb-<lb/>
ständiges Vermögenssubjekt auf. Aber damit war auch die Differen-<lb/>
zierung beendet. Weder der Hausvater, noch Frau oder Kinder hatten<lb/>
scharf bestimmte individuelle Rechte an das Vermögen; es verblieb als<lb/>
Stock der Familiengenerationen. Die einzelnen Familienglieder waren<lb/>
nach dieser Richtung hin noch nicht individualisiert. Die Heraus-<lb/>
bildung der wirtschaftlichen Individualität beginnt hier also an dem<lb/>
Punkte, wo der Erbgang endet: <hirendition="#g">an</hi> der Einzelfamilie, und hört dort<lb/>
wieder auf, wo er noch herrscht: <hirendition="#g">innerhalb</hi> der Einzelfamilie; erst<lb/>
wo, wie in der Neuzeit, die Vererbung wesentlich bewegliches Ver-<lb/>
mögen betrifft, wird dieser Inhalt ihrer mit seinen individualistischen<lb/>
Konsequenzen freilich Herr über ihr formal anti-individualistisches<lb/>
Wesen. Ja selbst die Forderungen der Praxis können dieses oft nicht<lb/>
überwinden, wo es an dem Charakter des Grundbesitzes seine Stütze<lb/>
findet. Es könnte nämlich mancher Schattenseite unseres bäuerlichen<lb/>
Erbrechts in einzelnen Fällen abgeholfen werden, wenn die Bauern<lb/>
testierten. Allein das thun sie sehr selten. Das Testament ist zu<lb/>
individuell gegenüber der Intestaterbfolge. Die Verfügung über den<lb/>
Besitz nach ganz persönlichem, von der Üblichkeit und Allgemeinheit<lb/>
abweichendem Belieben ist ein zu starker Anspruch an die Differenziert-<lb/>
heit des Bauern. So dokumentiert sich überall die Immobilität des<lb/>
Besitzes, mag sie mit seiner Kollektivität oder seiner Erblichkeit ver-<lb/>
bunden sein, als das Hemmnis, dessen Zurückweichen einen proportio-<lb/>
nalen Fortschritt der Differenzierung und persönlichen Freiheit ge-<lb/>
stattet. Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist,<lb/>
muſs es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch<lb/>
thatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den<lb/>
vereinheitlichenden Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten aus-<lb/>
strahlen, am entschiedensten bewirkt.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[364/0388]
familie wirtschaftlich vom „Geschlecht“ emanzipiert und trat als selb-
ständiges Vermögenssubjekt auf. Aber damit war auch die Differen-
zierung beendet. Weder der Hausvater, noch Frau oder Kinder hatten
scharf bestimmte individuelle Rechte an das Vermögen; es verblieb als
Stock der Familiengenerationen. Die einzelnen Familienglieder waren
nach dieser Richtung hin noch nicht individualisiert. Die Heraus-
bildung der wirtschaftlichen Individualität beginnt hier also an dem
Punkte, wo der Erbgang endet: an der Einzelfamilie, und hört dort
wieder auf, wo er noch herrscht: innerhalb der Einzelfamilie; erst
wo, wie in der Neuzeit, die Vererbung wesentlich bewegliches Ver-
mögen betrifft, wird dieser Inhalt ihrer mit seinen individualistischen
Konsequenzen freilich Herr über ihr formal anti-individualistisches
Wesen. Ja selbst die Forderungen der Praxis können dieses oft nicht
überwinden, wo es an dem Charakter des Grundbesitzes seine Stütze
findet. Es könnte nämlich mancher Schattenseite unseres bäuerlichen
Erbrechts in einzelnen Fällen abgeholfen werden, wenn die Bauern
testierten. Allein das thun sie sehr selten. Das Testament ist zu
individuell gegenüber der Intestaterbfolge. Die Verfügung über den
Besitz nach ganz persönlichem, von der Üblichkeit und Allgemeinheit
abweichendem Belieben ist ein zu starker Anspruch an die Differenziert-
heit des Bauern. So dokumentiert sich überall die Immobilität des
Besitzes, mag sie mit seiner Kollektivität oder seiner Erblichkeit ver-
bunden sein, als das Hemmnis, dessen Zurückweichen einen proportio-
nalen Fortschritt der Differenzierung und persönlichen Freiheit ge-
stattet. Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist,
muſs es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch
thatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den
vereinheitlichenden Bindungen, wie sie von anderen Besitzobjekten aus-
strahlen, am entschiedensten bewirkt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/388>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.