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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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wie man die Zeugung als ein solches Wachstum bezeichnet hat. In
diesem wie in jenem Falle dehnt sich die individuelle Sphäre über
die Grenze hinaus, die sie ursprünglich bezeichnete, das Ich setzt sich
jenseits seines unmittelbaren Umfanges fort und erstreckt sich in ein
Ausser-Sich, das dennoch im weiteren Sinne "sein" ist. Bei einigen
malaiischen Stämmen gehören dem Vater nur diejenigen Kinder, welche
nach Bezahlung des Brautpreises geboren werden, während die vor-
her -- aber zweifellos in derselben Ehe -- geborenen der Familie der
Mutter gehören. Der Grund dieser Bestimmung ist natürlich der rein
äusserliche: dass die Kinder Wertgegenstände darstellen, die man durch
die Verheiratung der Tochter an den Mann fortgiebt, an die man sich
aber hält, bis der Preis für die Mutter selbst bezahlt ist. Dennoch
offenbart sie jene tief gelegene Beziehung zwischen dem Besitz und der
Proliferation. Der Mann hat gleichsam die Wahl, ob er seine Macht-
sphäre durch den Besitz seiner Kinder oder durch Einbehalten der
schuldigen Vermögensstücke erweitern will. In den Veden heisst es
über die frühesten brahmanischen Mönche: "Sie lassen davon ab, nach
Söhnen zu trachten und nach Habe zu trachten. Denn was das
Trachten nach Söhnen ist, das ist auch das Trachten
nach Habe
. Trachten ist das Eine wie das Andere." Dies will frei-
lich an sich noch nicht die Identität beider Bestrebungen ihrem Inhalte
nach aussagen: aber das Bezeichnende ist doch, dass grade sie als Bei-
spiele gewählt sind, um die Identität alles Strebens zu beweisen. In
der Erzeugung von Seinesgleichen setzt sich das Ich ebenso über seine
ursprüngliche Beschränkung auf sich selbst fort, wie wenn es, in der
Verfügung über Besitz, diesem die Form seines Willens einprägt.
Dieser Begriff des Besitzes als einer blossen Erweiterung der Persön-
lichkeit erfährt keine Widerlegung, sondern grade eine tiefere Be-
stätigung durch die Fälle, in denen das Persönlichkeitsgefühl gleichsam
den Zentralpunkt des Ich verlassen und sich auf jene umgebenden
Schichten, den Besitz, übertragen hat -- grade wie die Deutung der
Proliferation und Familienbildung als Expansion des Ich dadurch nicht
gestört wird, dass die direkten Ichinteressen schliesslich hinter die
Interessen der Kinder zurücktreten können. Im mittelalterlichen Eng-
land galt es als das Zeichen unfreier Stellung, wenn man nicht ohne
die Einwilligung des Lords eine Tochter verheiraten und einen Ochsen
verkaufen durfte. Ja, wer dazu ohne weiteres berechtigt war, wurde
sogar oft als frei angesehen, auch wenn er persönliche Frohndienste
zu leisten hatte. Dass das Ichgefühl so seine unmittelbaren Grenzen über-
schritten und sich in Objekten, die es doch nur mittelbar berühren, an-
gesiedelt hat, beweist grade, wie sehr der Besitz als solcher nichts an-

wie man die Zeugung als ein solches Wachstum bezeichnet hat. In
diesem wie in jenem Falle dehnt sich die individuelle Sphäre über
die Grenze hinaus, die sie ursprünglich bezeichnete, das Ich setzt sich
jenseits seines unmittelbaren Umfanges fort und erstreckt sich in ein
Auſser-Sich, das dennoch im weiteren Sinne „sein“ ist. Bei einigen
malaiischen Stämmen gehören dem Vater nur diejenigen Kinder, welche
nach Bezahlung des Brautpreises geboren werden, während die vor-
her — aber zweifellos in derselben Ehe — geborenen der Familie der
Mutter gehören. Der Grund dieser Bestimmung ist natürlich der rein
äuſserliche: daſs die Kinder Wertgegenstände darstellen, die man durch
die Verheiratung der Tochter an den Mann fortgiebt, an die man sich
aber hält, bis der Preis für die Mutter selbst bezahlt ist. Dennoch
offenbart sie jene tief gelegene Beziehung zwischen dem Besitz und der
Proliferation. Der Mann hat gleichsam die Wahl, ob er seine Macht-
sphäre durch den Besitz seiner Kinder oder durch Einbehalten der
schuldigen Vermögensstücke erweitern will. In den Veden heiſst es
über die frühesten brahmanischen Mönche: „Sie lassen davon ab, nach
Söhnen zu trachten und nach Habe zu trachten. Denn was das
Trachten nach Söhnen ist, das ist auch das Trachten
nach Habe
. Trachten ist das Eine wie das Andere.“ Dies will frei-
lich an sich noch nicht die Identität beider Bestrebungen ihrem Inhalte
nach aussagen: aber das Bezeichnende ist doch, daſs grade sie als Bei-
spiele gewählt sind, um die Identität alles Strebens zu beweisen. In
der Erzeugung von Seinesgleichen setzt sich das Ich ebenso über seine
ursprüngliche Beschränkung auf sich selbst fort, wie wenn es, in der
Verfügung über Besitz, diesem die Form seines Willens einprägt.
Dieser Begriff des Besitzes als einer bloſsen Erweiterung der Persön-
lichkeit erfährt keine Widerlegung, sondern grade eine tiefere Be-
stätigung durch die Fälle, in denen das Persönlichkeitsgefühl gleichsam
den Zentralpunkt des Ich verlassen und sich auf jene umgebenden
Schichten, den Besitz, übertragen hat — grade wie die Deutung der
Proliferation und Familienbildung als Expansion des Ich dadurch nicht
gestört wird, daſs die direkten Ichinteressen schlieſslich hinter die
Interessen der Kinder zurücktreten können. Im mittelalterlichen Eng-
land galt es als das Zeichen unfreier Stellung, wenn man nicht ohne
die Einwilligung des Lords eine Tochter verheiraten und einen Ochsen
verkaufen durfte. Ja, wer dazu ohne weiteres berechtigt war, wurde
sogar oft als frei angesehen, auch wenn er persönliche Frohndienste
zu leisten hatte. Daſs das Ichgefühl so seine unmittelbaren Grenzen über-
schritten und sich in Objekten, die es doch nur mittelbar berühren, an-
gesiedelt hat, beweist grade, wie sehr der Besitz als solcher nichts an-

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[326/0350] wie man die Zeugung als ein solches Wachstum bezeichnet hat. In diesem wie in jenem Falle dehnt sich die individuelle Sphäre über die Grenze hinaus, die sie ursprünglich bezeichnete, das Ich setzt sich jenseits seines unmittelbaren Umfanges fort und erstreckt sich in ein Auſser-Sich, das dennoch im weiteren Sinne „sein“ ist. Bei einigen malaiischen Stämmen gehören dem Vater nur diejenigen Kinder, welche nach Bezahlung des Brautpreises geboren werden, während die vor- her — aber zweifellos in derselben Ehe — geborenen der Familie der Mutter gehören. Der Grund dieser Bestimmung ist natürlich der rein äuſserliche: daſs die Kinder Wertgegenstände darstellen, die man durch die Verheiratung der Tochter an den Mann fortgiebt, an die man sich aber hält, bis der Preis für die Mutter selbst bezahlt ist. Dennoch offenbart sie jene tief gelegene Beziehung zwischen dem Besitz und der Proliferation. Der Mann hat gleichsam die Wahl, ob er seine Macht- sphäre durch den Besitz seiner Kinder oder durch Einbehalten der schuldigen Vermögensstücke erweitern will. In den Veden heiſst es über die frühesten brahmanischen Mönche: „Sie lassen davon ab, nach Söhnen zu trachten und nach Habe zu trachten. Denn was das Trachten nach Söhnen ist, das ist auch das Trachten nach Habe. Trachten ist das Eine wie das Andere.“ Dies will frei- lich an sich noch nicht die Identität beider Bestrebungen ihrem Inhalte nach aussagen: aber das Bezeichnende ist doch, daſs grade sie als Bei- spiele gewählt sind, um die Identität alles Strebens zu beweisen. In der Erzeugung von Seinesgleichen setzt sich das Ich ebenso über seine ursprüngliche Beschränkung auf sich selbst fort, wie wenn es, in der Verfügung über Besitz, diesem die Form seines Willens einprägt. Dieser Begriff des Besitzes als einer bloſsen Erweiterung der Persön- lichkeit erfährt keine Widerlegung, sondern grade eine tiefere Be- stätigung durch die Fälle, in denen das Persönlichkeitsgefühl gleichsam den Zentralpunkt des Ich verlassen und sich auf jene umgebenden Schichten, den Besitz, übertragen hat — grade wie die Deutung der Proliferation und Familienbildung als Expansion des Ich dadurch nicht gestört wird, daſs die direkten Ichinteressen schlieſslich hinter die Interessen der Kinder zurücktreten können. Im mittelalterlichen Eng- land galt es als das Zeichen unfreier Stellung, wenn man nicht ohne die Einwilligung des Lords eine Tochter verheiraten und einen Ochsen verkaufen durfte. Ja, wer dazu ohne weiteres berechtigt war, wurde sogar oft als frei angesehen, auch wenn er persönliche Frohndienste zu leisten hatte. Daſs das Ichgefühl so seine unmittelbaren Grenzen über- schritten und sich in Objekten, die es doch nur mittelbar berühren, an- gesiedelt hat, beweist grade, wie sehr der Besitz als solcher nichts an-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/350>, abgerufen am 06.05.2024.