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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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der Vorstellungen, Willens-Impulse, Gefühle, steht ein Bezirk von
Objekten, mit deren Bewusstsein der Gedanke mitschwebt, sie hätten
eine dauernde, sachliche, jenseits aller Singularität und Zufällig-
keit ihres Vorgestelltwerdens stehende Gültigkeit. Die beharrende
Substanz der Dinge und die gesetzmässige Ordnung ihrer Schicksale,
der beständige Charakter der Menschen und die Normen der Sittlich-
keit, die Forderungen des Rechtes und der religiöse Sinn des Welt-
ganzen -- alles dies hat eine sozusagen ideelle Existenz und Gültig-
keit, die sprachlich nicht anders zu bezeichnen ist als durch die Un-
abhängigkeit von den einzelnen Vorgängen, in denen jene Substanz
und Gesetzlichkeit sich darstellt oder in denen jenen Forderungen und
Normen genügt oder nicht genügt wird. Wie wir den beharrenden
Charakter einer Person von den einzelnen Handlungen unterscheiden,
in denen er sich ausprägt oder die ihm auch widersprechen, so besteht
etwa der sittliche Imperativ in ganz ungebrochener Würde, ob ihm
im Empirischen gehorcht wird oder nicht; wie der geometrische Satz
gilt, unabhängig von den einzelnen Figuren, die ihn genau oder un-
genau repräsentieren, so bestehen die Stoffe und Kräfte des Weltganzen,
gleichviel welche Teile davon das menschliche Vorstellen abwechselnd
für sich herauslöst. An jener früheren Stelle nun sahen wir, dass
diese Kategorie, die weder als Sein noch als Vorgestelltwerden, sondern
als ein Eigenartiges jenseits dieser gedacht werden muss -- aus sich
selbst heraustretend eine Zweiheit von Bedeutungen gewinnt: sie ver-
festigt sich einerseits zur Metaphysik, indem das übersinguläre Moment
ihrer als transszendente, absolute Bestimmung des Daseins erscheint;
sie dient andrerseits als Regel oder Typus der einzelnen empirischen
Vorkommnisse, gleichsam als Garantie dafür, dass diese immer in einer
bestimmten Weise verlaufen.

Gewiss muss die Erkenntnistheorie das ewige Naturgesetz von
der zeitlichen Summe seiner Verwirklichungen unterscheiden; allein
ich sehe nicht ein, was es innerhalb der Praxis des Erkennens
noch ausser der Bestimmung jeder überhaupt je eintretenden einzelnen
Verwirklichung leisten soll. Gewiss ist der objektive Gegenstand im
gleichen Sinn zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen,
in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur
darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu be-
stimmen; gewiss steht die sittliche Norm jenseits der einzelnen Hand-
lungen, auf die sie positive oder negative Anwendung findet, aber sie
hat doch nur den Sinn, jeder dergleichen Handlung ihren Wert zu
bestimmen, und wenn es überhaupt keine Einzelhandlungen gäbe noch

Simmel, Philosophie des Geldes. 20

stellen suchten. Oberhalb der einzelnen Inhalte unseres Bewuſstseins:
der Vorstellungen, Willens-Impulse, Gefühle, steht ein Bezirk von
Objekten, mit deren Bewuſstsein der Gedanke mitschwebt, sie hätten
eine dauernde, sachliche, jenseits aller Singularität und Zufällig-
keit ihres Vorgestelltwerdens stehende Gültigkeit. Die beharrende
Substanz der Dinge und die gesetzmäſsige Ordnung ihrer Schicksale,
der beständige Charakter der Menschen und die Normen der Sittlich-
keit, die Forderungen des Rechtes und der religiöse Sinn des Welt-
ganzen — alles dies hat eine sozusagen ideelle Existenz und Gültig-
keit, die sprachlich nicht anders zu bezeichnen ist als durch die Un-
abhängigkeit von den einzelnen Vorgängen, in denen jene Substanz
und Gesetzlichkeit sich darstellt oder in denen jenen Forderungen und
Normen genügt oder nicht genügt wird. Wie wir den beharrenden
Charakter einer Person von den einzelnen Handlungen unterscheiden,
in denen er sich ausprägt oder die ihm auch widersprechen, so besteht
etwa der sittliche Imperativ in ganz ungebrochener Würde, ob ihm
im Empirischen gehorcht wird oder nicht; wie der geometrische Satz
gilt, unabhängig von den einzelnen Figuren, die ihn genau oder un-
genau repräsentieren, so bestehen die Stoffe und Kräfte des Weltganzen,
gleichviel welche Teile davon das menschliche Vorstellen abwechselnd
für sich herauslöst. An jener früheren Stelle nun sahen wir, daſs
diese Kategorie, die weder als Sein noch als Vorgestelltwerden, sondern
als ein Eigenartiges jenseits dieser gedacht werden muſs — aus sich
selbst heraustretend eine Zweiheit von Bedeutungen gewinnt: sie ver-
festigt sich einerseits zur Metaphysik, indem das übersinguläre Moment
ihrer als transszendente, absolute Bestimmung des Daseins erscheint;
sie dient andrerseits als Regel oder Typus der einzelnen empirischen
Vorkommnisse, gleichsam als Garantie dafür, daſs diese immer in einer
bestimmten Weise verlaufen.

Gewiſs muſs die Erkenntnistheorie das ewige Naturgesetz von
der zeitlichen Summe seiner Verwirklichungen unterscheiden; allein
ich sehe nicht ein, was es innerhalb der Praxis des Erkennens
noch auſser der Bestimmung jeder überhaupt je eintretenden einzelnen
Verwirklichung leisten soll. Gewiſs ist der objektive Gegenstand im
gleichen Sinn zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen,
in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur
darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu be-
stimmen; gewiſs steht die sittliche Norm jenseits der einzelnen Hand-
lungen, auf die sie positive oder negative Anwendung findet, aber sie
hat doch nur den Sinn, jeder dergleichen Handlung ihren Wert zu
bestimmen, und wenn es überhaupt keine Einzelhandlungen gäbe noch

Simmel, Philosophie des Geldes. 20
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[305/0329] stellen suchten. Oberhalb der einzelnen Inhalte unseres Bewuſstseins: der Vorstellungen, Willens-Impulse, Gefühle, steht ein Bezirk von Objekten, mit deren Bewuſstsein der Gedanke mitschwebt, sie hätten eine dauernde, sachliche, jenseits aller Singularität und Zufällig- keit ihres Vorgestelltwerdens stehende Gültigkeit. Die beharrende Substanz der Dinge und die gesetzmäſsige Ordnung ihrer Schicksale, der beständige Charakter der Menschen und die Normen der Sittlich- keit, die Forderungen des Rechtes und der religiöse Sinn des Welt- ganzen — alles dies hat eine sozusagen ideelle Existenz und Gültig- keit, die sprachlich nicht anders zu bezeichnen ist als durch die Un- abhängigkeit von den einzelnen Vorgängen, in denen jene Substanz und Gesetzlichkeit sich darstellt oder in denen jenen Forderungen und Normen genügt oder nicht genügt wird. Wie wir den beharrenden Charakter einer Person von den einzelnen Handlungen unterscheiden, in denen er sich ausprägt oder die ihm auch widersprechen, so besteht etwa der sittliche Imperativ in ganz ungebrochener Würde, ob ihm im Empirischen gehorcht wird oder nicht; wie der geometrische Satz gilt, unabhängig von den einzelnen Figuren, die ihn genau oder un- genau repräsentieren, so bestehen die Stoffe und Kräfte des Weltganzen, gleichviel welche Teile davon das menschliche Vorstellen abwechselnd für sich herauslöst. An jener früheren Stelle nun sahen wir, daſs diese Kategorie, die weder als Sein noch als Vorgestelltwerden, sondern als ein Eigenartiges jenseits dieser gedacht werden muſs — aus sich selbst heraustretend eine Zweiheit von Bedeutungen gewinnt: sie ver- festigt sich einerseits zur Metaphysik, indem das übersinguläre Moment ihrer als transszendente, absolute Bestimmung des Daseins erscheint; sie dient andrerseits als Regel oder Typus der einzelnen empirischen Vorkommnisse, gleichsam als Garantie dafür, daſs diese immer in einer bestimmten Weise verlaufen. Gewiſs muſs die Erkenntnistheorie das ewige Naturgesetz von der zeitlichen Summe seiner Verwirklichungen unterscheiden; allein ich sehe nicht ein, was es innerhalb der Praxis des Erkennens noch auſser der Bestimmung jeder überhaupt je eintretenden einzelnen Verwirklichung leisten soll. Gewiſs ist der objektive Gegenstand im gleichen Sinn zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen, in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu be- stimmen; gewiſs steht die sittliche Norm jenseits der einzelnen Hand- lungen, auf die sie positive oder negative Anwendung findet, aber sie hat doch nur den Sinn, jeder dergleichen Handlung ihren Wert zu bestimmen, und wenn es überhaupt keine Einzelhandlungen gäbe noch Simmel, Philosophie des Geldes. 20

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/329>, abgerufen am 06.05.2024.