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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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irrelevanter, aber die Rolle des Geldes überhaupt wird immer mächtiger
und umfassender. In all diesen Erscheinungen werden innerhalb der
Geldwirtschaft die Objekte in ihrer Einzelheit und Individualität für
uns immer gleichgültiger, wesenloser, auswechselbarer, während die
sachliche Funktion, die die ganze Gattung übt, uns immer wichtiger
wird, uns immer abhängiger macht.

Und wenn wir die Bedeutung betrachten, die die Natur als Ganzes
und höchster Allgemeinbegriff für den neuzeitlichen Menschen besitzt --
sowohl im Sinne der abstrakten Gesetzmässigkeit wie des metaphysischen
Fühlens der Welt, während er sich gegen die Umgebungseinzelheiten
der Natur unendlich viel fremder und unabhängiger verhält als der
Mensch früherer Epochen -- so werden wir als das grosse Schema der
Neuzeit wohl aussprechen können, dass sie den Menschen immer ab-
hängiger von Ganzheiten und Allheiten und immer unabhängiger von
Einzelheiten macht, wogegen das Spezialistentum des Forschers kein
Einwand ist, da dies uns ja grade zur Herrschaft über die Natur in
Einzelheiten verhilft, ohne dass die Last ihres Gesamtproblems uns
darum weniger drückte, die vielmehr mit jenen Erleichterungen im
einzelnen erst recht aufgewachsen ist. Dies ist die Verteilungsform,
zu der die unserem Wesen eigene Gesamtproportion von Bindungs- und
Freiheitsquanten jetzt strebt und die auf sehr vielen Gebieten ihren
Träger in der Geldwirtschaft findet.

Und diese Entwicklung reiht sich nun wieder in ein noch all-
gemeineres Schema ein, das für ausserordentlich viele Inhalte und Be-
ziehungen des Menschlichen gilt. In ungeschiedener Einheit des Sach-
lichen und des Persönlichen pflegen diese ursprünglich aufzutreten.
Nicht als ob, wie wir es heute empfinden, die Inhalte des Lebens:
Eigentum und Arbeit, Pflicht und Erkenntnis, soziale Stellung und
Religion -- irgend ein Fürsichsein, eine reale oder begriffliche Selb-
ständigkeit besässen und dann erst, von der Persönlichkeit aufgenommen,
jene enge und solidarische Verbindung mit ihr eingingen. Vielmehr,
der primäre Zustand ist eine völlige Einheit, eine ungebrochene In-
differenz, die überhaupt noch jenseits des Gegensatzes persönlicher und
sachlicher Seiten des Lebens steht. So weiss z. B. das Vorstellungs-
leben auf seinen niedrigen Stufen gar nicht zwischen objektiver, logischer
Wahrheit und subjektiven, nur psychologischen Gebilden zu unter-
scheiden: dem Kinde und dem Naturmenschen gilt das psychologische
Gebilde des Augenblicks, das Phantasma, der subjektiv erzeugte Ein-
druck ohne weiteres als Wirklichkeit; das Wort und die Sache, das
Symbol und das Symbolisierte, der Name und die Person fallen ihm
zusammen, wie unzählige Thatsachen der Ethnologie und der Kinder-

irrelevanter, aber die Rolle des Geldes überhaupt wird immer mächtiger
und umfassender. In all diesen Erscheinungen werden innerhalb der
Geldwirtschaft die Objekte in ihrer Einzelheit und Individualität für
uns immer gleichgültiger, wesenloser, auswechselbarer, während die
sachliche Funktion, die die ganze Gattung übt, uns immer wichtiger
wird, uns immer abhängiger macht.

Und wenn wir die Bedeutung betrachten, die die Natur als Ganzes
und höchster Allgemeinbegriff für den neuzeitlichen Menschen besitzt —
sowohl im Sinne der abstrakten Gesetzmäſsigkeit wie des metaphysischen
Fühlens der Welt, während er sich gegen die Umgebungseinzelheiten
der Natur unendlich viel fremder und unabhängiger verhält als der
Mensch früherer Epochen — so werden wir als das groſse Schema der
Neuzeit wohl aussprechen können, daſs sie den Menschen immer ab-
hängiger von Ganzheiten und Allheiten und immer unabhängiger von
Einzelheiten macht, wogegen das Spezialistentum des Forschers kein
Einwand ist, da dies uns ja grade zur Herrschaft über die Natur in
Einzelheiten verhilft, ohne daſs die Last ihres Gesamtproblems uns
darum weniger drückte, die vielmehr mit jenen Erleichterungen im
einzelnen erst recht aufgewachsen ist. Dies ist die Verteilungsform,
zu der die unserem Wesen eigene Gesamtproportion von Bindungs- und
Freiheitsquanten jetzt strebt und die auf sehr vielen Gebieten ihren
Träger in der Geldwirtschaft findet.

Und diese Entwicklung reiht sich nun wieder in ein noch all-
gemeineres Schema ein, das für auſserordentlich viele Inhalte und Be-
ziehungen des Menschlichen gilt. In ungeschiedener Einheit des Sach-
lichen und des Persönlichen pflegen diese ursprünglich aufzutreten.
Nicht als ob, wie wir es heute empfinden, die Inhalte des Lebens:
Eigentum und Arbeit, Pflicht und Erkenntnis, soziale Stellung und
Religion — irgend ein Fürsichsein, eine reale oder begriffliche Selb-
ständigkeit besäſsen und dann erst, von der Persönlichkeit aufgenommen,
jene enge und solidarische Verbindung mit ihr eingingen. Vielmehr,
der primäre Zustand ist eine völlige Einheit, eine ungebrochene In-
differenz, die überhaupt noch jenseits des Gegensatzes persönlicher und
sachlicher Seiten des Lebens steht. So weiſs z. B. das Vorstellungs-
leben auf seinen niedrigen Stufen gar nicht zwischen objektiver, logischer
Wahrheit und subjektiven, nur psychologischen Gebilden zu unter-
scheiden: dem Kinde und dem Naturmenschen gilt das psychologische
Gebilde des Augenblicks, das Phantasma, der subjektiv erzeugte Ein-
druck ohne weiteres als Wirklichkeit; das Wort und die Sache, das
Symbol und das Symbolisierte, der Name und die Person fallen ihm
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[299/0323] irrelevanter, aber die Rolle des Geldes überhaupt wird immer mächtiger und umfassender. In all diesen Erscheinungen werden innerhalb der Geldwirtschaft die Objekte in ihrer Einzelheit und Individualität für uns immer gleichgültiger, wesenloser, auswechselbarer, während die sachliche Funktion, die die ganze Gattung übt, uns immer wichtiger wird, uns immer abhängiger macht. Und wenn wir die Bedeutung betrachten, die die Natur als Ganzes und höchster Allgemeinbegriff für den neuzeitlichen Menschen besitzt — sowohl im Sinne der abstrakten Gesetzmäſsigkeit wie des metaphysischen Fühlens der Welt, während er sich gegen die Umgebungseinzelheiten der Natur unendlich viel fremder und unabhängiger verhält als der Mensch früherer Epochen — so werden wir als das groſse Schema der Neuzeit wohl aussprechen können, daſs sie den Menschen immer ab- hängiger von Ganzheiten und Allheiten und immer unabhängiger von Einzelheiten macht, wogegen das Spezialistentum des Forschers kein Einwand ist, da dies uns ja grade zur Herrschaft über die Natur in Einzelheiten verhilft, ohne daſs die Last ihres Gesamtproblems uns darum weniger drückte, die vielmehr mit jenen Erleichterungen im einzelnen erst recht aufgewachsen ist. Dies ist die Verteilungsform, zu der die unserem Wesen eigene Gesamtproportion von Bindungs- und Freiheitsquanten jetzt strebt und die auf sehr vielen Gebieten ihren Träger in der Geldwirtschaft findet. Und diese Entwicklung reiht sich nun wieder in ein noch all- gemeineres Schema ein, das für auſserordentlich viele Inhalte und Be- ziehungen des Menschlichen gilt. In ungeschiedener Einheit des Sach- lichen und des Persönlichen pflegen diese ursprünglich aufzutreten. Nicht als ob, wie wir es heute empfinden, die Inhalte des Lebens: Eigentum und Arbeit, Pflicht und Erkenntnis, soziale Stellung und Religion — irgend ein Fürsichsein, eine reale oder begriffliche Selb- ständigkeit besäſsen und dann erst, von der Persönlichkeit aufgenommen, jene enge und solidarische Verbindung mit ihr eingingen. Vielmehr, der primäre Zustand ist eine völlige Einheit, eine ungebrochene In- differenz, die überhaupt noch jenseits des Gegensatzes persönlicher und sachlicher Seiten des Lebens steht. So weiſs z. B. das Vorstellungs- leben auf seinen niedrigen Stufen gar nicht zwischen objektiver, logischer Wahrheit und subjektiven, nur psychologischen Gebilden zu unter- scheiden: dem Kinde und dem Naturmenschen gilt das psychologische Gebilde des Augenblicks, das Phantasma, der subjektiv erzeugte Ein- druck ohne weiteres als Wirklichkeit; das Wort und die Sache, das Symbol und das Symbolisierte, der Name und die Person fallen ihm zusammen, wie unzählige Thatsachen der Ethnologie und der Kinder-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/323>, abgerufen am 06.05.2024.