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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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fest. Die zweiten tausend Mark Einkommen, die etwa das Leben eines
Handwerkers qualitativ ganz umgestalten und ihm völlig neue Inhalte
geben, sind den ersten mit grösserer Sicherheit ununterscheidbar gleich,
als es selbst die Quantitäten von Stoffen sind, durch deren allmählich
summierte Einwirkung auf unsere Nerven man im psychologischen La-
boratorium die Schwellenwerte für unsere Sinnesempfindungen feststellt.
Die Korrelation zwischen quantitativer Verschiedenheit der Ursache und
qualitativer Verschiedenheit der Wirkung muss da am klarsten werden,
wo die Ursache überhaupt keine Qualität besitzt und alles, was man,
als Reflex ihrer Wirkungen, ihre Qualität nennen könnte, ausschliesslich
in den Unterschieden ihres Wieviel besteht, das durch die Einheit der
besitzenden Persönlichkeit selbst zu einer Einheit zusammengeht.

Ein anderer Grund, der die Erscheinungen der Bewusstseinsschwelle
in besonders merkbare Beziehung zum Geld setzt, ist dieser. Das Be-
stehen und die Summierung von Ursachen, deren eigentlich proportionale
Wirkung ausbleibt, um erst oberhalb einer gewissen Grenze einzutreten,
wird um so ausgedehnter sein und diese Grenze um so höher hinauf-
rücken lassen, je unbewegter, in sich stabiler das ganze System ist, in
dem der Vorgang sich abspielt: so kann man bekanntlich Wasser bis
erheblich unter den Nullpunkt abkühlen, ohne dass es gefriert, wenn
man es nur vor jeder Bewegung bewahrt, während die leiseste Er-
schütterung es sofort zu Eis werden lässt; so kann man die Hand in
allmählich erhitztem Wasser halten, weit über den sonst erträglichen
Grad hinaus, wenn man nur jede Bewegung ihrer oder des Wassers
vermeiden kann; so rufen, auf höheren und komplizierten Gebieten,
vielerlei Einflüsse und Verhältnisse die ihnen entsprechende Gefühls-
reaktion erst dann hervor, wenn unser ganzes Wesen, vielleicht von
einem ganz andern Punkte her, aufgerüttelt wird; sowohl der Besitz
von Werten wie die Entbehrung derselben oder die Unwürdigkeit ge-
wisser Situationen können lange bestehen und sich sogar allmählich
steigern, ehe wir uns der Bedeutung davon bewusst werden; es muss
erst ein Anstoss erfolgen, der die inneren Elemente sich gleichsam an-
einander reiben lässt, so dass wir uns ihrer wirklichen Stärke grade
an ihren jetzt erst bemerkten Relationen oder Unterschieden gegen
alle andern bewusst werden. Ja, Gefühle wie Liebe und Hass können
lange in uns leben und gleichsam unterirdisch sich akkumulieren und
gewisse verkleidete Wirkungen üben, bis irgend ein Anstoss, meistens
eine Unterbrechung der äusseren Regelmässigkeit der Beziehungen, jene
Gefühle in das Bewusstsein hinein explodieren lässt und ihnen nun erst
die ihnen zukommende Ausbreitung und Folgenreichtum verschafft.
Nach demselben Typus verlaufen auch soziale Entwicklungen. Sinn-

fest. Die zweiten tausend Mark Einkommen, die etwa das Leben eines
Handwerkers qualitativ ganz umgestalten und ihm völlig neue Inhalte
geben, sind den ersten mit gröſserer Sicherheit ununterscheidbar gleich,
als es selbst die Quantitäten von Stoffen sind, durch deren allmählich
summierte Einwirkung auf unsere Nerven man im psychologischen La-
boratorium die Schwellenwerte für unsere Sinnesempfindungen feststellt.
Die Korrelation zwischen quantitativer Verschiedenheit der Ursache und
qualitativer Verschiedenheit der Wirkung muſs da am klarsten werden,
wo die Ursache überhaupt keine Qualität besitzt und alles, was man,
als Reflex ihrer Wirkungen, ihre Qualität nennen könnte, ausschlieſslich
in den Unterschieden ihres Wieviel besteht, das durch die Einheit der
besitzenden Persönlichkeit selbst zu einer Einheit zusammengeht.

Ein anderer Grund, der die Erscheinungen der Bewuſstseinsschwelle
in besonders merkbare Beziehung zum Geld setzt, ist dieser. Das Be-
stehen und die Summierung von Ursachen, deren eigentlich proportionale
Wirkung ausbleibt, um erst oberhalb einer gewissen Grenze einzutreten,
wird um so ausgedehnter sein und diese Grenze um so höher hinauf-
rücken lassen, je unbewegter, in sich stabiler das ganze System ist, in
dem der Vorgang sich abspielt: so kann man bekanntlich Wasser bis
erheblich unter den Nullpunkt abkühlen, ohne daſs es gefriert, wenn
man es nur vor jeder Bewegung bewahrt, während die leiseste Er-
schütterung es sofort zu Eis werden läſst; so kann man die Hand in
allmählich erhitztem Wasser halten, weit über den sonst erträglichen
Grad hinaus, wenn man nur jede Bewegung ihrer oder des Wassers
vermeiden kann; so rufen, auf höheren und komplizierten Gebieten,
vielerlei Einflüsse und Verhältnisse die ihnen entsprechende Gefühls-
reaktion erst dann hervor, wenn unser ganzes Wesen, vielleicht von
einem ganz andern Punkte her, aufgerüttelt wird; sowohl der Besitz
von Werten wie die Entbehrung derselben oder die Unwürdigkeit ge-
wisser Situationen können lange bestehen und sich sogar allmählich
steigern, ehe wir uns der Bedeutung davon bewuſst werden; es muſs
erst ein Anstoſs erfolgen, der die inneren Elemente sich gleichsam an-
einander reiben läſst, so daſs wir uns ihrer wirklichen Stärke grade
an ihren jetzt erst bemerkten Relationen oder Unterschieden gegen
alle andern bewuſst werden. Ja, Gefühle wie Liebe und Haſs können
lange in uns leben und gleichsam unterirdisch sich akkumulieren und
gewisse verkleidete Wirkungen üben, bis irgend ein Anstoſs, meistens
eine Unterbrechung der äuſseren Regelmäſsigkeit der Beziehungen, jene
Gefühle in das Bewuſstsein hinein explodieren läſst und ihnen nun erst
die ihnen zukommende Ausbreitung und Folgenreichtum verschafft.
Nach demselben Typus verlaufen auch soziale Entwicklungen. Sinn-

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[264/0288] fest. Die zweiten tausend Mark Einkommen, die etwa das Leben eines Handwerkers qualitativ ganz umgestalten und ihm völlig neue Inhalte geben, sind den ersten mit gröſserer Sicherheit ununterscheidbar gleich, als es selbst die Quantitäten von Stoffen sind, durch deren allmählich summierte Einwirkung auf unsere Nerven man im psychologischen La- boratorium die Schwellenwerte für unsere Sinnesempfindungen feststellt. Die Korrelation zwischen quantitativer Verschiedenheit der Ursache und qualitativer Verschiedenheit der Wirkung muſs da am klarsten werden, wo die Ursache überhaupt keine Qualität besitzt und alles, was man, als Reflex ihrer Wirkungen, ihre Qualität nennen könnte, ausschlieſslich in den Unterschieden ihres Wieviel besteht, das durch die Einheit der besitzenden Persönlichkeit selbst zu einer Einheit zusammengeht. Ein anderer Grund, der die Erscheinungen der Bewuſstseinsschwelle in besonders merkbare Beziehung zum Geld setzt, ist dieser. Das Be- stehen und die Summierung von Ursachen, deren eigentlich proportionale Wirkung ausbleibt, um erst oberhalb einer gewissen Grenze einzutreten, wird um so ausgedehnter sein und diese Grenze um so höher hinauf- rücken lassen, je unbewegter, in sich stabiler das ganze System ist, in dem der Vorgang sich abspielt: so kann man bekanntlich Wasser bis erheblich unter den Nullpunkt abkühlen, ohne daſs es gefriert, wenn man es nur vor jeder Bewegung bewahrt, während die leiseste Er- schütterung es sofort zu Eis werden läſst; so kann man die Hand in allmählich erhitztem Wasser halten, weit über den sonst erträglichen Grad hinaus, wenn man nur jede Bewegung ihrer oder des Wassers vermeiden kann; so rufen, auf höheren und komplizierten Gebieten, vielerlei Einflüsse und Verhältnisse die ihnen entsprechende Gefühls- reaktion erst dann hervor, wenn unser ganzes Wesen, vielleicht von einem ganz andern Punkte her, aufgerüttelt wird; sowohl der Besitz von Werten wie die Entbehrung derselben oder die Unwürdigkeit ge- wisser Situationen können lange bestehen und sich sogar allmählich steigern, ehe wir uns der Bedeutung davon bewuſst werden; es muſs erst ein Anstoſs erfolgen, der die inneren Elemente sich gleichsam an- einander reiben läſst, so daſs wir uns ihrer wirklichen Stärke grade an ihren jetzt erst bemerkten Relationen oder Unterschieden gegen alle andern bewuſst werden. Ja, Gefühle wie Liebe und Haſs können lange in uns leben und gleichsam unterirdisch sich akkumulieren und gewisse verkleidete Wirkungen üben, bis irgend ein Anstoſs, meistens eine Unterbrechung der äuſseren Regelmäſsigkeit der Beziehungen, jene Gefühle in das Bewuſstsein hinein explodieren läſst und ihnen nun erst die ihnen zukommende Ausbreitung und Folgenreichtum verschafft. Nach demselben Typus verlaufen auch soziale Entwicklungen. Sinn-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/288>, abgerufen am 24.11.2024.