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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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für Geld, selbst für das unzweifelhaft gute, etwas zu liefern; was sich
denn auch in Fällen von Boykottierung durchaus fühlbar gemacht hat.
Nur bei schon bestehenden Verpflichtungen kann der Berechtigte
gezwungen werden, die Verpflichtung, welcher Art sie auch sei, durch
Geld solvieren zu lassen -- und auch das nicht einmal in allen Gesetz-
gebungen. Diese Möglichkeit, dass der im Geld liegende Anspruch
doch auch nicht erfüllt würde, bestätigt den Charakter des Geldes als
eines blossen Kredites; denn das ist doch das Wesen des Kredites,
dass der Wahrscheinlichkeitsbruch seiner Realisierung niemals gleich
eins wird, so sehr er sich dem auch nähern mag. Thatsächlich ist der
Einzelne also frei, sein Produkt oder seinen sonstigen Besitz dem Geld-
besitzer hinzugeben oder nicht -- während die Gesamtheit allerdings
diesem gegenüber verpflichtet ist. Diese Verteilung von Freiheit und Ge-
bundenheit, so paradox sie ist, dient doch nicht selten als Erkenntnis-
kategorie. So haben z. B. Verteidiger der "statistischen Gesetze" be-
hauptet, die Gesellschaft müsste zwar unter bestimmten Bedingungen
naturgesetzlich eine bestimmte Anzahl von Morden, Diebstählen, un-
ehelichen Geburten hervorbringen; der Einzelne aber sei dadurch nicht
zu einem bezüglichen Verhalten genötigt, er vielmehr sei frei, moralisch
oder unmoralisch zu handeln; das statistische Gesetz bestimme nicht,
dass grade dieser Bestimmte derartige Thaten zu vollbringen habe,
sondern nur, dass das Ganze, dem er angehört, ein prädestiniertes
Quantum derselben produzieren müsse. Oder wir hören auch: die
Gesamtheit der Gesellschaft oder der Gattung habe ihre festgesetzte
Rolle in dem göttlichen Weltplan, in der Entwicklung des Seins zu
den letzten transszendenten Zwecken zu spielen; die einzelnen Träger
derselben aber seien irrelevant, sie hätten die Freiheit, gleichsam die
Gesamtleistung unter sich zu verteilen, und der Einzelne könne sich
dem auch entziehen, ohne dass jener Gesamtleistung Abbruch geschehe.
Endlich ist hervorgehoben, dass die Aktionen einer Gruppe immer
durch den naturgesetzlichen Zug ihrer Interessen schwankungslos be-
stimmt seien, wie die Materienmassen durch die Gravitation; das Indi-
viduum dagegen sei von Theorien und Konflikten beirrt, es stehe
zwischen vielen Möglichkeiten, unter denen es richtig oder irrtümlich
wählen könne -- im Unterschiede von den jeder Freiheit entbehren-
den, weil von schwankungslosen Instinkten und Zweckmässigkeiten
geleiteten Kollektivhandlungen. Wieviel richtiges und falsches an diesen
Vorstellungen ist, steht hier nicht zur Untersuchung, sondern nur darauf
ist hinzuweisen, wie auch sonst dieses Schema eines Verhältnisses
zwischen Allgemeinheit und Individuum gilt: jene als nezessitiert und
dieses als frei vorzustellen, die Gebundenheit jener durch die Freiheit

für Geld, selbst für das unzweifelhaft gute, etwas zu liefern; was sich
denn auch in Fällen von Boykottierung durchaus fühlbar gemacht hat.
Nur bei schon bestehenden Verpflichtungen kann der Berechtigte
gezwungen werden, die Verpflichtung, welcher Art sie auch sei, durch
Geld solvieren zu lassen — und auch das nicht einmal in allen Gesetz-
gebungen. Diese Möglichkeit, daſs der im Geld liegende Anspruch
doch auch nicht erfüllt würde, bestätigt den Charakter des Geldes als
eines bloſsen Kredites; denn das ist doch das Wesen des Kredites,
daſs der Wahrscheinlichkeitsbruch seiner Realisierung niemals gleich
eins wird, so sehr er sich dem auch nähern mag. Thatsächlich ist der
Einzelne also frei, sein Produkt oder seinen sonstigen Besitz dem Geld-
besitzer hinzugeben oder nicht — während die Gesamtheit allerdings
diesem gegenüber verpflichtet ist. Diese Verteilung von Freiheit und Ge-
bundenheit, so paradox sie ist, dient doch nicht selten als Erkenntnis-
kategorie. So haben z. B. Verteidiger der „statistischen Gesetze“ be-
hauptet, die Gesellschaft müſste zwar unter bestimmten Bedingungen
naturgesetzlich eine bestimmte Anzahl von Morden, Diebstählen, un-
ehelichen Geburten hervorbringen; der Einzelne aber sei dadurch nicht
zu einem bezüglichen Verhalten genötigt, er vielmehr sei frei, moralisch
oder unmoralisch zu handeln; das statistische Gesetz bestimme nicht,
daſs grade dieser Bestimmte derartige Thaten zu vollbringen habe,
sondern nur, daſs das Ganze, dem er angehört, ein prädestiniertes
Quantum derselben produzieren müsse. Oder wir hören auch: die
Gesamtheit der Gesellschaft oder der Gattung habe ihre festgesetzte
Rolle in dem göttlichen Weltplan, in der Entwicklung des Seins zu
den letzten transszendenten Zwecken zu spielen; die einzelnen Träger
derselben aber seien irrelevant, sie hätten die Freiheit, gleichsam die
Gesamtleistung unter sich zu verteilen, und der Einzelne könne sich
dem auch entziehen, ohne daſs jener Gesamtleistung Abbruch geschehe.
Endlich ist hervorgehoben, daſs die Aktionen einer Gruppe immer
durch den naturgesetzlichen Zug ihrer Interessen schwankungslos be-
stimmt seien, wie die Materienmassen durch die Gravitation; das Indi-
viduum dagegen sei von Theorien und Konflikten beirrt, es stehe
zwischen vielen Möglichkeiten, unter denen es richtig oder irrtümlich
wählen könne — im Unterschiede von den jeder Freiheit entbehren-
den, weil von schwankungslosen Instinkten und Zweckmäſsigkeiten
geleiteten Kollektivhandlungen. Wieviel richtiges und falsches an diesen
Vorstellungen ist, steht hier nicht zur Untersuchung, sondern nur darauf
ist hinzuweisen, wie auch sonst dieses Schema eines Verhältnisses
zwischen Allgemeinheit und Individuum gilt: jene als nezessitiert und
dieses als frei vorzustellen, die Gebundenheit jener durch die Freiheit

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[151/0175] für Geld, selbst für das unzweifelhaft gute, etwas zu liefern; was sich denn auch in Fällen von Boykottierung durchaus fühlbar gemacht hat. Nur bei schon bestehenden Verpflichtungen kann der Berechtigte gezwungen werden, die Verpflichtung, welcher Art sie auch sei, durch Geld solvieren zu lassen — und auch das nicht einmal in allen Gesetz- gebungen. Diese Möglichkeit, daſs der im Geld liegende Anspruch doch auch nicht erfüllt würde, bestätigt den Charakter des Geldes als eines bloſsen Kredites; denn das ist doch das Wesen des Kredites, daſs der Wahrscheinlichkeitsbruch seiner Realisierung niemals gleich eins wird, so sehr er sich dem auch nähern mag. Thatsächlich ist der Einzelne also frei, sein Produkt oder seinen sonstigen Besitz dem Geld- besitzer hinzugeben oder nicht — während die Gesamtheit allerdings diesem gegenüber verpflichtet ist. Diese Verteilung von Freiheit und Ge- bundenheit, so paradox sie ist, dient doch nicht selten als Erkenntnis- kategorie. So haben z. B. Verteidiger der „statistischen Gesetze“ be- hauptet, die Gesellschaft müſste zwar unter bestimmten Bedingungen naturgesetzlich eine bestimmte Anzahl von Morden, Diebstählen, un- ehelichen Geburten hervorbringen; der Einzelne aber sei dadurch nicht zu einem bezüglichen Verhalten genötigt, er vielmehr sei frei, moralisch oder unmoralisch zu handeln; das statistische Gesetz bestimme nicht, daſs grade dieser Bestimmte derartige Thaten zu vollbringen habe, sondern nur, daſs das Ganze, dem er angehört, ein prädestiniertes Quantum derselben produzieren müsse. Oder wir hören auch: die Gesamtheit der Gesellschaft oder der Gattung habe ihre festgesetzte Rolle in dem göttlichen Weltplan, in der Entwicklung des Seins zu den letzten transszendenten Zwecken zu spielen; die einzelnen Träger derselben aber seien irrelevant, sie hätten die Freiheit, gleichsam die Gesamtleistung unter sich zu verteilen, und der Einzelne könne sich dem auch entziehen, ohne daſs jener Gesamtleistung Abbruch geschehe. Endlich ist hervorgehoben, daſs die Aktionen einer Gruppe immer durch den naturgesetzlichen Zug ihrer Interessen schwankungslos be- stimmt seien, wie die Materienmassen durch die Gravitation; das Indi- viduum dagegen sei von Theorien und Konflikten beirrt, es stehe zwischen vielen Möglichkeiten, unter denen es richtig oder irrtümlich wählen könne — im Unterschiede von den jeder Freiheit entbehren- den, weil von schwankungslosen Instinkten und Zweckmäſsigkeiten geleiteten Kollektivhandlungen. Wieviel richtiges und falsches an diesen Vorstellungen ist, steht hier nicht zur Untersuchung, sondern nur darauf ist hinzuweisen, wie auch sonst dieses Schema eines Verhältnisses zwischen Allgemeinheit und Individuum gilt: jene als nezessitiert und dieses als frei vorzustellen, die Gebundenheit jener durch die Freiheit

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/175>, abgerufen am 23.04.2024.