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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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schaft, Parteibildung und viele andere in ihr als dem Träger oder
Rahmen jener entstünden. Sondern Gesellschaft ist nichts als die
Zusammenfassung oder der allgemeine Name für die Gesamtheit dieser
speziellen Wechselbeziehungen. Die einzelne freilich kann ausscheiden,
und es bleibt noch immer "Gesellschaft" übrig -- aber nur, wenn nach
Wegfall der einen noch eine hinreichend grosse Anzahl anderer in
kraft bleiben; fielen sie fort, so würde es auch keine Gesellschaft mehr
geben: grade wie die Lebenseinheit eines organischen Körpers noch
damit weiter bestehen kann, dass eine oder die andere seiner Funktionen,
d. h. der Wechselbeziehungen zwischen seinen Teilen aufhört, aber nicht
mehr damit, dass sie alle aufhören -- weil "Leben" nichts anderes ist
als die Summe solcher, unter den Atomen eines Körpers wechselseitig
ausgeübten Kräfte. Fast ist es deshalb noch ein zweideutiger Aus-
druck, dass der Tausch Vergesellschaftung bewirke; er ist vielmehr
eine Vergesellschaftung, eine jener Beziehungen, deren Bestehen eine
Summe von Individuen zu einer sozialen Gruppe macht, weil "Gesell-
schaft" mit der Summe dieser Beziehungen identisch ist.

Die oft hervorgehobenen Unbequemlichkeiten und Unzulänglich-
keiten des Naturaltausches nun sind durchaus denen vergleichbar, die
sich bei anderen sozialen Wechselwirkungen einstellen, so lange sie sich
noch in dem Stadium der Unmittelbarkeit befinden: wenn alle Regierungs-
massregeln von der Gesamtheit der Bürger beraten und gebilligt werden
müssen; wenn der Schutz der Gruppe nach aussen noch durch den
primitiven Waffendienst jedes Gruppenangehörigen bewerkstelligt wird;
wenn die Verwaltung der Gerechtigkeit noch auf dem unmittelbaren
Urteilsspruch der Gemeinde beruht -- so ergeben sich daraus bei
wachsender Extensität und Komplikation der Gruppe alle jene Unzweck-
mässigkeiten, Behinderungen und Lockerungen, die einerseits auf die
Abgabe dieser Funktionen an besondere arbeitsteilige Organe, andrer-
seits auf die Kreierung vertretender und zusammenhaltender Ideale und
Symbole hindrängen. Die Tauschfunktion führt thatsächlich zu Bildungen
von beiderlei Art: einerseits zum Stande der Händler, andrerseits
zum Geld. Der Händler ist der differenzierte Träger der sonst zwischen
den Produzenten unmittelbar ausgeübten Tauschfunktionen, statt der
einfachen Wechselbeziehungen unter diesen tritt die Beziehung ein,
welche jeder derselben für sich zum Händler hat, wie die unmittelbare
Kontrole und Kohäsion der Gruppengenossen durch die gemeinsame
Beziehung zu den Regierungsorganen ersetzt wird. Und nun kann man,
genauere Erkenntnis vorbereitend, sagen: wie der Händler zwischen
den tauschenden Subjekten steht, grade so steht das Geld zwischen
den Tauschobjekten. Statt dass deren Äquivalenz unmittelbar wirksam

Simmel, Philosophie des Geldes. 10

schaft, Parteibildung und viele andere in ihr als dem Träger oder
Rahmen jener entstünden. Sondern Gesellschaft ist nichts als die
Zusammenfassung oder der allgemeine Name für die Gesamtheit dieser
speziellen Wechselbeziehungen. Die einzelne freilich kann ausscheiden,
und es bleibt noch immer „Gesellschaft“ übrig — aber nur, wenn nach
Wegfall der einen noch eine hinreichend groſse Anzahl anderer in
kraft bleiben; fielen sie fort, so würde es auch keine Gesellschaft mehr
geben: grade wie die Lebenseinheit eines organischen Körpers noch
damit weiter bestehen kann, daſs eine oder die andere seiner Funktionen,
d. h. der Wechselbeziehungen zwischen seinen Teilen aufhört, aber nicht
mehr damit, daſs sie alle aufhören — weil „Leben“ nichts anderes ist
als die Summe solcher, unter den Atomen eines Körpers wechselseitig
ausgeübten Kräfte. Fast ist es deshalb noch ein zweideutiger Aus-
druck, daſs der Tausch Vergesellschaftung bewirke; er ist vielmehr
eine Vergesellschaftung, eine jener Beziehungen, deren Bestehen eine
Summe von Individuen zu einer sozialen Gruppe macht, weil „Gesell-
schaft“ mit der Summe dieser Beziehungen identisch ist.

Die oft hervorgehobenen Unbequemlichkeiten und Unzulänglich-
keiten des Naturaltausches nun sind durchaus denen vergleichbar, die
sich bei anderen sozialen Wechselwirkungen einstellen, so lange sie sich
noch in dem Stadium der Unmittelbarkeit befinden: wenn alle Regierungs-
maſsregeln von der Gesamtheit der Bürger beraten und gebilligt werden
müssen; wenn der Schutz der Gruppe nach auſsen noch durch den
primitiven Waffendienst jedes Gruppenangehörigen bewerkstelligt wird;
wenn die Verwaltung der Gerechtigkeit noch auf dem unmittelbaren
Urteilsspruch der Gemeinde beruht — so ergeben sich daraus bei
wachsender Extensität und Komplikation der Gruppe alle jene Unzweck-
mäſsigkeiten, Behinderungen und Lockerungen, die einerseits auf die
Abgabe dieser Funktionen an besondere arbeitsteilige Organe, andrer-
seits auf die Kreierung vertretender und zusammenhaltender Ideale und
Symbole hindrängen. Die Tauschfunktion führt thatsächlich zu Bildungen
von beiderlei Art: einerseits zum Stande der Händler, andrerseits
zum Geld. Der Händler ist der differenzierte Träger der sonst zwischen
den Produzenten unmittelbar ausgeübten Tauschfunktionen, statt der
einfachen Wechselbeziehungen unter diesen tritt die Beziehung ein,
welche jeder derselben für sich zum Händler hat, wie die unmittelbare
Kontrole und Kohäsion der Gruppengenossen durch die gemeinsame
Beziehung zu den Regierungsorganen ersetzt wird. Und nun kann man,
genauere Erkenntnis vorbereitend, sagen: wie der Händler zwischen
den tauschenden Subjekten steht, grade so steht das Geld zwischen
den Tauschobjekten. Statt daſs deren Äquivalenz unmittelbar wirksam

Simmel, Philosophie des Geldes. 10
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[145/0169] schaft, Parteibildung und viele andere in ihr als dem Träger oder Rahmen jener entstünden. Sondern Gesellschaft ist nichts als die Zusammenfassung oder der allgemeine Name für die Gesamtheit dieser speziellen Wechselbeziehungen. Die einzelne freilich kann ausscheiden, und es bleibt noch immer „Gesellschaft“ übrig — aber nur, wenn nach Wegfall der einen noch eine hinreichend groſse Anzahl anderer in kraft bleiben; fielen sie fort, so würde es auch keine Gesellschaft mehr geben: grade wie die Lebenseinheit eines organischen Körpers noch damit weiter bestehen kann, daſs eine oder die andere seiner Funktionen, d. h. der Wechselbeziehungen zwischen seinen Teilen aufhört, aber nicht mehr damit, daſs sie alle aufhören — weil „Leben“ nichts anderes ist als die Summe solcher, unter den Atomen eines Körpers wechselseitig ausgeübten Kräfte. Fast ist es deshalb noch ein zweideutiger Aus- druck, daſs der Tausch Vergesellschaftung bewirke; er ist vielmehr eine Vergesellschaftung, eine jener Beziehungen, deren Bestehen eine Summe von Individuen zu einer sozialen Gruppe macht, weil „Gesell- schaft“ mit der Summe dieser Beziehungen identisch ist. Die oft hervorgehobenen Unbequemlichkeiten und Unzulänglich- keiten des Naturaltausches nun sind durchaus denen vergleichbar, die sich bei anderen sozialen Wechselwirkungen einstellen, so lange sie sich noch in dem Stadium der Unmittelbarkeit befinden: wenn alle Regierungs- maſsregeln von der Gesamtheit der Bürger beraten und gebilligt werden müssen; wenn der Schutz der Gruppe nach auſsen noch durch den primitiven Waffendienst jedes Gruppenangehörigen bewerkstelligt wird; wenn die Verwaltung der Gerechtigkeit noch auf dem unmittelbaren Urteilsspruch der Gemeinde beruht — so ergeben sich daraus bei wachsender Extensität und Komplikation der Gruppe alle jene Unzweck- mäſsigkeiten, Behinderungen und Lockerungen, die einerseits auf die Abgabe dieser Funktionen an besondere arbeitsteilige Organe, andrer- seits auf die Kreierung vertretender und zusammenhaltender Ideale und Symbole hindrängen. Die Tauschfunktion führt thatsächlich zu Bildungen von beiderlei Art: einerseits zum Stande der Händler, andrerseits zum Geld. Der Händler ist der differenzierte Träger der sonst zwischen den Produzenten unmittelbar ausgeübten Tauschfunktionen, statt der einfachen Wechselbeziehungen unter diesen tritt die Beziehung ein, welche jeder derselben für sich zum Händler hat, wie die unmittelbare Kontrole und Kohäsion der Gruppengenossen durch die gemeinsame Beziehung zu den Regierungsorganen ersetzt wird. Und nun kann man, genauere Erkenntnis vorbereitend, sagen: wie der Händler zwischen den tauschenden Subjekten steht, grade so steht das Geld zwischen den Tauschobjekten. Statt daſs deren Äquivalenz unmittelbar wirksam Simmel, Philosophie des Geldes. 10

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/169>, abgerufen am 24.11.2024.