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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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fassung des von vornherein Gerechten nicht unterschieden -- sondern
aus den vorangegangenen, sittlich anders gerichteten, und der That-
sache, dass diese jetzt nicht mehr bestehen. Oder wenn nach starken
Hemmungen unserer Thätigkeit, äusserlicher Erzwungenheit ihrer
Richtung wieder Freiheit und Selbstbestimmung eintritt, so knüpft sich
nun an unser Thun ein spezifisches Wohl- und Wertgefühl, das gar
nicht aus den einzelnen Inhalten derselben oder ihrem Erfolge quillt,
sondern ausschliesslich daraus, dass die Form der Abhängigkeit
beseitigt ist: genau dasselbe Thun würde, an eine ununterbrochene
Reihe unabhängiger Handlungen sich anschliessend, eben dieses Reizes
entbehren, der aus dem blossen Vorbeisein jener früheren Lebensform
quillt. Solcher Erfolg des Nichtseienden für das Seiende erscheint
etwas modifiziert und unserer speziellen Frage -- bei aller inhaltlichen
Fremdheit -- näher liegend in der Bedeutung, die das unmittelbare
Gefühlsleben für das lyrische oder musikalische Kunstwerk besitzt.
Denn so sehr Lyrik und Musik auf der Stärke der subjektiven inneren
Bewegungen aufgebaut sind, so verlangt ihr Charakter als Kunst doch,
dass deren Unmittelbarkeit überwunden werde. Der Rohstoff des Ge-
fühls mit seiner Impulsivität, seiner personalen Beschränktheit, seiner
unausgeglichenen Zufälligkeit, bildet zwar die Voraussetzung des Kunst-
werkes, aber die Reinheit desselben verlangt eine Distanz gegen jenen,
eine Erlöstheit von ihm. Das ist ja der ganze Sinn der Kunst, für
den Schaffenden wie für den Geniessenden, dass sie uns über die Un-
mittelbarkeit des Verhältnisses zu uns selbst und zur Welt hinaus-
hebe, und ihr Wert hängt daran, dass wir dies hinter uns gelassen
haben, dass es als etwas wirkt, was nicht mehr da ist. Und wenn
man sagt, es sei doch eben das Nachhallen jenes autochthonen Ge-
fühles, jener ursprünglichsten Erregtheit der Seele, von dem der Reiz
des Kunstwerkes lebe, so wird damit grade zugegeben, dass das Spe-
zifische
desselben nicht in demjenigen liegt, was der unmittelbaren
und der ästhetischen Form des Gefühlsinhalts gemeinsam ist, sondern
in dem neuen Ton, den die letztere insoweit erhält, als die erstere
verklungen ist. Und endlich der entschiedenste und allgemeinste Fall
dieses Typus, der wegen seiner tiefen Eingebettetheit in unsere funda-
mentalen Wertungen wenig beachtet wird. Es scheint mir nämlich,
als ob eine ungeheure Anzahl von Lebensinhalten, deren Reiz wir ge-
niessen, die Höhe desselben dem Umstande verdankt, dass wir um
ihretwillen unzählige Chancen anderen Geniessens und Uns-bewährens
unausgeschöpft lassen. Nicht nur in dem Aneinander-Vorübergehen
der Menschen, ihrem Auseinandergehen nach kurzer Berührung, ja in
der völligen Fremdheit gegen unzählige, denen wir und die uns ein

fassung des von vornherein Gerechten nicht unterschieden — sondern
aus den vorangegangenen, sittlich anders gerichteten, und der That-
sache, daſs diese jetzt nicht mehr bestehen. Oder wenn nach starken
Hemmungen unserer Thätigkeit, äuſserlicher Erzwungenheit ihrer
Richtung wieder Freiheit und Selbstbestimmung eintritt, so knüpft sich
nun an unser Thun ein spezifisches Wohl- und Wertgefühl, das gar
nicht aus den einzelnen Inhalten derselben oder ihrem Erfolge quillt,
sondern ausschlieſslich daraus, daſs die Form der Abhängigkeit
beseitigt ist: genau dasselbe Thun würde, an eine ununterbrochene
Reihe unabhängiger Handlungen sich anschlieſsend, eben dieses Reizes
entbehren, der aus dem bloſsen Vorbeisein jener früheren Lebensform
quillt. Solcher Erfolg des Nichtseienden für das Seiende erscheint
etwas modifiziert und unserer speziellen Frage — bei aller inhaltlichen
Fremdheit — näher liegend in der Bedeutung, die das unmittelbare
Gefühlsleben für das lyrische oder musikalische Kunstwerk besitzt.
Denn so sehr Lyrik und Musik auf der Stärke der subjektiven inneren
Bewegungen aufgebaut sind, so verlangt ihr Charakter als Kunst doch,
daſs deren Unmittelbarkeit überwunden werde. Der Rohstoff des Ge-
fühls mit seiner Impulsivität, seiner personalen Beschränktheit, seiner
unausgeglichenen Zufälligkeit, bildet zwar die Voraussetzung des Kunst-
werkes, aber die Reinheit desselben verlangt eine Distanz gegen jenen,
eine Erlöstheit von ihm. Das ist ja der ganze Sinn der Kunst, für
den Schaffenden wie für den Genieſsenden, daſs sie uns über die Un-
mittelbarkeit des Verhältnisses zu uns selbst und zur Welt hinaus-
hebe, und ihr Wert hängt daran, daſs wir dies hinter uns gelassen
haben, daſs es als etwas wirkt, was nicht mehr da ist. Und wenn
man sagt, es sei doch eben das Nachhallen jenes autochthonen Ge-
fühles, jener ursprünglichsten Erregtheit der Seele, von dem der Reiz
des Kunstwerkes lebe, so wird damit grade zugegeben, daſs das Spe-
zifische
desselben nicht in demjenigen liegt, was der unmittelbaren
und der ästhetischen Form des Gefühlsinhalts gemeinsam ist, sondern
in dem neuen Ton, den die letztere insoweit erhält, als die erstere
verklungen ist. Und endlich der entschiedenste und allgemeinste Fall
dieses Typus, der wegen seiner tiefen Eingebettetheit in unsere funda-
mentalen Wertungen wenig beachtet wird. Es scheint mir nämlich,
als ob eine ungeheure Anzahl von Lebensinhalten, deren Reiz wir ge-
nieſsen, die Höhe desselben dem Umstande verdankt, daſs wir um
ihretwillen unzählige Chancen anderen Genieſsens und Uns-bewährens
unausgeschöpft lassen. Nicht nur in dem Aneinander-Vorübergehen
der Menschen, ihrem Auseinandergehen nach kurzer Berührung, ja in
der völligen Fremdheit gegen unzählige, denen wir und die uns ein

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[117/0141] fassung des von vornherein Gerechten nicht unterschieden — sondern aus den vorangegangenen, sittlich anders gerichteten, und der That- sache, daſs diese jetzt nicht mehr bestehen. Oder wenn nach starken Hemmungen unserer Thätigkeit, äuſserlicher Erzwungenheit ihrer Richtung wieder Freiheit und Selbstbestimmung eintritt, so knüpft sich nun an unser Thun ein spezifisches Wohl- und Wertgefühl, das gar nicht aus den einzelnen Inhalten derselben oder ihrem Erfolge quillt, sondern ausschlieſslich daraus, daſs die Form der Abhängigkeit beseitigt ist: genau dasselbe Thun würde, an eine ununterbrochene Reihe unabhängiger Handlungen sich anschlieſsend, eben dieses Reizes entbehren, der aus dem bloſsen Vorbeisein jener früheren Lebensform quillt. Solcher Erfolg des Nichtseienden für das Seiende erscheint etwas modifiziert und unserer speziellen Frage — bei aller inhaltlichen Fremdheit — näher liegend in der Bedeutung, die das unmittelbare Gefühlsleben für das lyrische oder musikalische Kunstwerk besitzt. Denn so sehr Lyrik und Musik auf der Stärke der subjektiven inneren Bewegungen aufgebaut sind, so verlangt ihr Charakter als Kunst doch, daſs deren Unmittelbarkeit überwunden werde. Der Rohstoff des Ge- fühls mit seiner Impulsivität, seiner personalen Beschränktheit, seiner unausgeglichenen Zufälligkeit, bildet zwar die Voraussetzung des Kunst- werkes, aber die Reinheit desselben verlangt eine Distanz gegen jenen, eine Erlöstheit von ihm. Das ist ja der ganze Sinn der Kunst, für den Schaffenden wie für den Genieſsenden, daſs sie uns über die Un- mittelbarkeit des Verhältnisses zu uns selbst und zur Welt hinaus- hebe, und ihr Wert hängt daran, daſs wir dies hinter uns gelassen haben, daſs es als etwas wirkt, was nicht mehr da ist. Und wenn man sagt, es sei doch eben das Nachhallen jenes autochthonen Ge- fühles, jener ursprünglichsten Erregtheit der Seele, von dem der Reiz des Kunstwerkes lebe, so wird damit grade zugegeben, daſs das Spe- zifische desselben nicht in demjenigen liegt, was der unmittelbaren und der ästhetischen Form des Gefühlsinhalts gemeinsam ist, sondern in dem neuen Ton, den die letztere insoweit erhält, als die erstere verklungen ist. Und endlich der entschiedenste und allgemeinste Fall dieses Typus, der wegen seiner tiefen Eingebettetheit in unsere funda- mentalen Wertungen wenig beachtet wird. Es scheint mir nämlich, als ob eine ungeheure Anzahl von Lebensinhalten, deren Reiz wir ge- nieſsen, die Höhe desselben dem Umstande verdankt, daſs wir um ihretwillen unzählige Chancen anderen Genieſsens und Uns-bewährens unausgeschöpft lassen. Nicht nur in dem Aneinander-Vorübergehen der Menschen, ihrem Auseinandergehen nach kurzer Berührung, ja in der völligen Fremdheit gegen unzählige, denen wir und die uns ein

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/141>, abgerufen am 19.04.2024.