Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

X 1.
Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch
die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in
denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Per-
sonen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in
uns zwischen einem Gefühl und seiner Äusserung gebildet ist
und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene
rein äusserliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen
des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere
Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang.
Indem der Schauspieler zunächst äusserlich die geforderte Lage
und Bewegung nachahmt, lebt er sich schliesslich in das
innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der
äussern Nachahmung ganz in dieses, sodass er dann völlig aus
der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person
heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, dass die rein mecha-
nische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele
selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch
die Mittelglieder also der sinnlichen Äusserung des Affekts
und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben
zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns
mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um
so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche
Affekt um uns herum zur Äusserung kommt. Und geschieht
das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten,
so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur
erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen
Sichhinreissen, zur Überwucherung aller verstandesmässigen
und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen,
das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung
der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene
Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben.

Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu
widersprechen, dass die Vereinigung einer Menge auf dem
gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren
und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn
auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem so-
cialen Niveau einnimmt, so muss doch das letztere immer eine
gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die
wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen
erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum,
das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen
muss; so lange und so weit sich seine Anlagen noch im Zu-
stande der blossen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu
jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung,
die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren
geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung
von der grössten und noch keineswegs genügend hervorge-
hobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur

6*

X 1.
Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch
die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in
denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Per-
sonen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in
uns zwischen einem Gefühl und seiner Äuſserung gebildet ist
und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene
rein äuſserliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen
des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere
Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang.
Indem der Schauspieler zunächst äuſserlich die geforderte Lage
und Bewegung nachahmt, lebt er sich schlieſslich in das
innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der
äuſsern Nachahmung ganz in dieses, sodaſs er dann völlig aus
der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person
heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, daſs die rein mecha-
nische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele
selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch
die Mittelglieder also der sinnlichen Äuſserung des Affekts
und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben
zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns
mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um
so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche
Affekt um uns herum zur Äuſserung kommt. Und geschieht
das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten,
so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur
erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen
Sichhinreiſsen, zur Überwucherung aller verstandesmäſsigen
und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen,
das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung
der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene
Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben.

Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu
widersprechen, daſs die Vereinigung einer Menge auf dem
gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren
und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn
auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem so-
cialen Niveau einnimmt, so muſs doch das letztere immer eine
gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die
wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen
erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum,
das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen
muſs; so lange und so weit sich seine Anlagen noch im Zu-
stande der bloſsen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu
jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung,
die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren
geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung
von der gröſsten und noch keineswegs genügend hervorge-
hobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur

6*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0097" n="83"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/>
Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch<lb/>
die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in<lb/>
denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Per-<lb/>
sonen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in<lb/>
uns zwischen einem Gefühl und seiner Äu&#x017F;serung gebildet ist<lb/>
und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene<lb/>
rein äu&#x017F;serliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen<lb/>
des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere<lb/>
Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang.<lb/>
Indem der Schauspieler zunächst äu&#x017F;serlich die geforderte Lage<lb/>
und Bewegung nachahmt, lebt er sich schlie&#x017F;slich in das<lb/>
innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der<lb/>
äu&#x017F;sern Nachahmung ganz in dieses, soda&#x017F;s er dann völlig aus<lb/>
der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person<lb/>
heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, da&#x017F;s die rein mecha-<lb/>
nische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele<lb/>
selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch<lb/>
die Mittelglieder also der sinnlichen Äu&#x017F;serung des Affekts<lb/>
und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben<lb/>
zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns<lb/>
mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um<lb/>
so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche<lb/>
Affekt um uns herum zur Äu&#x017F;serung kommt. Und geschieht<lb/>
das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten,<lb/>
so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur<lb/>
erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen<lb/>
Sichhinrei&#x017F;sen, zur Überwucherung aller verstandesmä&#x017F;sigen<lb/>
und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen,<lb/>
das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung<lb/>
der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene<lb/>
Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben.</p><lb/>
        <p>Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu<lb/>
widersprechen, da&#x017F;s die Vereinigung einer Menge auf dem<lb/>
gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren<lb/>
und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn<lb/>
auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem so-<lb/>
cialen Niveau einnimmt, so mu&#x017F;s doch das letztere immer eine<lb/>
gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die<lb/>
wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen<lb/>
erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum,<lb/>
das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen<lb/>
mu&#x017F;s; so lange und so weit sich seine Anlagen noch im Zu-<lb/>
stande der blo&#x017F;sen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu<lb/>
jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung,<lb/>
die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren<lb/>
geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung<lb/>
von der grö&#x017F;sten und noch keineswegs genügend hervorge-<lb/>
hobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0097] X 1. Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Per- sonen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in uns zwischen einem Gefühl und seiner Äuſserung gebildet ist und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene rein äuſserliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang. Indem der Schauspieler zunächst äuſserlich die geforderte Lage und Bewegung nachahmt, lebt er sich schlieſslich in das innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der äuſsern Nachahmung ganz in dieses, sodaſs er dann völlig aus der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, daſs die rein mecha- nische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch die Mittelglieder also der sinnlichen Äuſserung des Affekts und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche Affekt um uns herum zur Äuſserung kommt. Und geschieht das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten, so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen Sichhinreiſsen, zur Überwucherung aller verstandesmäſsigen und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen, das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben. Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu widersprechen, daſs die Vereinigung einer Menge auf dem gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem so- cialen Niveau einnimmt, so muſs doch das letztere immer eine gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum, das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen muſs; so lange und so weit sich seine Anlagen noch im Zu- stande der bloſsen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung, die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung von der gröſsten und noch keineswegs genügend hervorge- hobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur 6*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/97
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/97>, abgerufen am 24.11.2024.