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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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logische Grundlage für die Stimmung und Bestimmung der
Menge durch den Appell an ihre Gefühle geschaffen; wo die
Unklarheit der Begriffe dem Gefühlsleben einen weiten Spiel-
raum giebt, da wird auch in Wechselwirkung das Gefühl
einen grösseren Einfluss auf die anderen und höheren Funk-
tionen ausüben, und Entschlüsse, die sonst aus einem deutlich
gegliederten teleologischen Bewusstseinsprozess hervorgehen,
werden aus jenen viel unklareren Überlegungen und Impulsen
entspringen, die der Erregung der Gefühle folgen. Wesentlich
ist auch die Widerstandslosigkeit, die aus dieser psychischen
Verfassung folgt und so das oben charakterisierte Mitgerissen-
werden erklären hilft; je primitiver und undifferenzierter der
Bewusstseinszustand ist, desto weniger findet ein auftauchender
Impuls sofort die nötigen Gegengewichte. Das beschränkte
geistige Niveau hat nur für eine einzige Vorstellungsgruppe
Raum, die sich vermöge der Grenzverschwommenheit seiner
Elemente widerstandslos fortpflanzt. Daher erklärt sich aber
auch das ebenso rasche Umschlagen der Stimmungen und
Entschlüsse einer Volksmenge, das nun dem früheren Inhalte
so wenig Raum giebt, wie sie damals für den jetzigen übrig
hatte; Schnelligkeit und Schroffheit im Nacheinander der
Vorstellungen und Entschlüsse ist das begreifliche Korrelat
zu dem Mangel ihres Nebeneinander.

Die weiteren psychologischen Gründe dessen, was ich
als Kollektivnervosität bezeichnete, gehören wohl hauptsächlich
in das weite Gebiet der Erscheinungen der "Sympathie". Es
ist zunächst anzunehmen, dass durch das enge Zusammensein
mit vielerlei Menschen eine grosse Anzahl dunkler Empfin-
dungen sympathischer und antipathischer Art ausgelöst wird,
dass sich vielerlei Reize, Triebe und Associationen an die
Mannichfaltigkeit der Eindrücke knüpfen, die wir etwa in einer
Volksversammlung, in einer Zuhörerschaft u. s. w. erfahren;
und wenn auch keiner derselben zu klarem Bewusstsein kommt,
so wirken sie doch gerade in ihrer Gesamtheit anregend
und bewirken eine innere nervöse Bewegung, die jeden sich
darbietenden Inhalt mit Leidenschaft ergreift und ihn weit
über das Mass hinaus steigert, das ihm ohne diesen subjek-
tiven Reizzustand zukäme; wir begreifen hieraus ganz im
allgemeinen die Steigerung des Nervenlebens, die die Ver-
gesellschaftung mit sich bringt, und dass sie um so grösser
sein muss, je verschiedenartiger die von dieser ausgehenden
Eindrücke und Anregungen sind, d. h. je weiter und differen-
zierter unser Kulturkreis ist. Eine andere Form der Sym-
pathie ist hier indes noch wichtiger. Unwillkürlich ahmen
wir Bewegungen nach, die wir um uns herum vorgehen sehen;
wie wir häufig beim Anhören eines Musikstücks dieses ganz
oder halb unbewusst mitsingen, beim Anblick einer lebhaften
Aktion dieselbe mit unserm Körper oft in der seltsamsten

X 1.
logische Grundlage für die Stimmung und Bestimmung der
Menge durch den Appell an ihre Gefühle geschaffen; wo die
Unklarheit der Begriffe dem Gefühlsleben einen weiten Spiel-
raum giebt, da wird auch in Wechselwirkung das Gefühl
einen gröſseren Einfluſs auf die anderen und höheren Funk-
tionen ausüben, und Entschlüsse, die sonst aus einem deutlich
gegliederten teleologischen Bewuſstseinsprozeſs hervorgehen,
werden aus jenen viel unklareren Überlegungen und Impulsen
entspringen, die der Erregung der Gefühle folgen. Wesentlich
ist auch die Widerstandslosigkeit, die aus dieser psychischen
Verfassung folgt und so das oben charakterisierte Mitgerissen-
werden erklären hilft; je primitiver und undifferenzierter der
Bewuſstseinszustand ist, desto weniger findet ein auftauchender
Impuls sofort die nötigen Gegengewichte. Das beschränkte
geistige Niveau hat nur für eine einzige Vorstellungsgruppe
Raum, die sich vermöge der Grenzverschwommenheit seiner
Elemente widerstandslos fortpflanzt. Daher erklärt sich aber
auch das ebenso rasche Umschlagen der Stimmungen und
Entschlüsse einer Volksmenge, das nun dem früheren Inhalte
so wenig Raum giebt, wie sie damals für den jetzigen übrig
hatte; Schnelligkeit und Schroffheit im Nacheinander der
Vorstellungen und Entschlüsse ist das begreifliche Korrelat
zu dem Mangel ihres Nebeneinander.

Die weiteren psychologischen Gründe dessen, was ich
als Kollektivnervosität bezeichnete, gehören wohl hauptsächlich
in das weite Gebiet der Erscheinungen der „Sympathie“. Es
ist zunächst anzunehmen, daſs durch das enge Zusammensein
mit vielerlei Menschen eine groſse Anzahl dunkler Empfin-
dungen sympathischer und antipathischer Art ausgelöst wird,
daſs sich vielerlei Reize, Triebe und Associationen an die
Mannichfaltigkeit der Eindrücke knüpfen, die wir etwa in einer
Volksversammlung, in einer Zuhörerschaft u. s. w. erfahren;
und wenn auch keiner derselben zu klarem Bewuſstsein kommt,
so wirken sie doch gerade in ihrer Gesamtheit anregend
und bewirken eine innere nervöse Bewegung, die jeden sich
darbietenden Inhalt mit Leidenschaft ergreift und ihn weit
über das Maſs hinaus steigert, das ihm ohne diesen subjek-
tiven Reizzustand zukäme; wir begreifen hieraus ganz im
allgemeinen die Steigerung des Nervenlebens, die die Ver-
gesellschaftung mit sich bringt, und daſs sie um so gröſser
sein muſs, je verschiedenartiger die von dieser ausgehenden
Eindrücke und Anregungen sind, d. h. je weiter und differen-
zierter unser Kulturkreis ist. Eine andere Form der Sym-
pathie ist hier indes noch wichtiger. Unwillkürlich ahmen
wir Bewegungen nach, die wir um uns herum vorgehen sehen;
wie wir häufig beim Anhören eines Musikstücks dieses ganz
oder halb unbewuſst mitsingen, beim Anblick einer lebhaften
Aktion dieselbe mit unserm Körper oft in der seltsamsten

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[82/0096] X 1. logische Grundlage für die Stimmung und Bestimmung der Menge durch den Appell an ihre Gefühle geschaffen; wo die Unklarheit der Begriffe dem Gefühlsleben einen weiten Spiel- raum giebt, da wird auch in Wechselwirkung das Gefühl einen gröſseren Einfluſs auf die anderen und höheren Funk- tionen ausüben, und Entschlüsse, die sonst aus einem deutlich gegliederten teleologischen Bewuſstseinsprozeſs hervorgehen, werden aus jenen viel unklareren Überlegungen und Impulsen entspringen, die der Erregung der Gefühle folgen. Wesentlich ist auch die Widerstandslosigkeit, die aus dieser psychischen Verfassung folgt und so das oben charakterisierte Mitgerissen- werden erklären hilft; je primitiver und undifferenzierter der Bewuſstseinszustand ist, desto weniger findet ein auftauchender Impuls sofort die nötigen Gegengewichte. Das beschränkte geistige Niveau hat nur für eine einzige Vorstellungsgruppe Raum, die sich vermöge der Grenzverschwommenheit seiner Elemente widerstandslos fortpflanzt. Daher erklärt sich aber auch das ebenso rasche Umschlagen der Stimmungen und Entschlüsse einer Volksmenge, das nun dem früheren Inhalte so wenig Raum giebt, wie sie damals für den jetzigen übrig hatte; Schnelligkeit und Schroffheit im Nacheinander der Vorstellungen und Entschlüsse ist das begreifliche Korrelat zu dem Mangel ihres Nebeneinander. Die weiteren psychologischen Gründe dessen, was ich als Kollektivnervosität bezeichnete, gehören wohl hauptsächlich in das weite Gebiet der Erscheinungen der „Sympathie“. Es ist zunächst anzunehmen, daſs durch das enge Zusammensein mit vielerlei Menschen eine groſse Anzahl dunkler Empfin- dungen sympathischer und antipathischer Art ausgelöst wird, daſs sich vielerlei Reize, Triebe und Associationen an die Mannichfaltigkeit der Eindrücke knüpfen, die wir etwa in einer Volksversammlung, in einer Zuhörerschaft u. s. w. erfahren; und wenn auch keiner derselben zu klarem Bewuſstsein kommt, so wirken sie doch gerade in ihrer Gesamtheit anregend und bewirken eine innere nervöse Bewegung, die jeden sich darbietenden Inhalt mit Leidenschaft ergreift und ihn weit über das Maſs hinaus steigert, das ihm ohne diesen subjek- tiven Reizzustand zukäme; wir begreifen hieraus ganz im allgemeinen die Steigerung des Nervenlebens, die die Ver- gesellschaftung mit sich bringt, und daſs sie um so gröſser sein muſs, je verschiedenartiger die von dieser ausgehenden Eindrücke und Anregungen sind, d. h. je weiter und differen- zierter unser Kulturkreis ist. Eine andere Form der Sym- pathie ist hier indes noch wichtiger. Unwillkürlich ahmen wir Bewegungen nach, die wir um uns herum vorgehen sehen; wie wir häufig beim Anhören eines Musikstücks dieses ganz oder halb unbewuſst mitsingen, beim Anblick einer lebhaften Aktion dieselbe mit unserm Körper oft in der seltsamsten

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/96>, abgerufen am 24.11.2024.