Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

X 1.
gekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen schein-
baren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das
Verhältnis schematisch so denken, dass der früheste Zustand
ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Gering-
fügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe.
Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, dass
die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen
Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe.
Die Folge davon wird sein, dass der Abstand zwischen beiden
sich immer vergrössert, dass das sociale Niveau im Verhältnis
zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer
niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in
fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen:
erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe,
ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im
Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen.
Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema
statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kultur-
vorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten ent-
behrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung
und der der oberen Stände ausserordentlich viel weiter ge-
worden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter
und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos
der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen
müssen, ein grösserer, als in den überhaupt "kindlicheren"
Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Indivi-
duums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die
intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwick-
lung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker aus-
gebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in
gleichem Verhältnis mit den letzteren, sodass erhebliche ab-
solute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren
gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen
wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Ge-
bildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der grösste, wo
auch die letzteren schon ein höheres Mass von Bildung besitzen,
als bei grösserer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts.
Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewiss ist
die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsver-
fassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, anderer-
seits im Durchschnitt der bewussten Gesinnungen an den
Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewiss aber ist die
Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den laster-
haften Handlungen vergrössert; die absolute Höhe der Diffe-
renzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus
beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute
Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar,
wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen

X 1.
gekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen schein-
baren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das
Verhältnis schematisch so denken, daſs der früheste Zustand
ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Gering-
fügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe.
Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, daſs
die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen
Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe.
Die Folge davon wird sein, daſs der Abstand zwischen beiden
sich immer vergröſsert, daſs das sociale Niveau im Verhältnis
zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer
niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in
fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen:
erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe,
ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im
Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen.
Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema
statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kultur-
vorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten ent-
behrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung
und der der oberen Stände auſserordentlich viel weiter ge-
worden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter
und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos
der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen
müssen, ein gröſserer, als in den überhaupt „kindlicheren“
Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Indivi-
duums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die
intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwick-
lung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker aus-
gebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in
gleichem Verhältnis mit den letzteren, sodaſs erhebliche ab-
solute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren
gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen
wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Ge-
bildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der gröſste, wo
auch die letzteren schon ein höheres Maſs von Bildung besitzen,
als bei gröſserer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts.
Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewiſs ist
die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsver-
fassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, anderer-
seits im Durchschnitt der bewuſsten Gesinnungen an den
Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewiſs aber ist die
Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den laster-
haften Handlungen vergröſsert; die absolute Höhe der Diffe-
renzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus
beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute
Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar,
wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0091" n="77"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/>
gekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen schein-<lb/>
baren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das<lb/>
Verhältnis schematisch so denken, da&#x017F;s der früheste Zustand<lb/>
ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Gering-<lb/>
fügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe.<lb/>
Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, da&#x017F;s<lb/>
die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen<lb/>
Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe.<lb/>
Die Folge davon wird sein, da&#x017F;s der Abstand zwischen beiden<lb/>
sich immer vergrö&#x017F;sert, da&#x017F;s das sociale Niveau im Verhältnis<lb/>
zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer<lb/>
niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in<lb/>
fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen:<lb/>
erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe,<lb/>
ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im<lb/>
Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen.<lb/>
Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema<lb/>
statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kultur-<lb/>
vorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten ent-<lb/>
behrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung<lb/>
und der der oberen Stände au&#x017F;serordentlich viel weiter ge-<lb/>
worden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter<lb/>
und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos<lb/>
der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen<lb/>
müssen, ein grö&#x017F;serer, als in den überhaupt &#x201E;kindlicheren&#x201C;<lb/>
Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Indivi-<lb/>
duums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die<lb/>
intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwick-<lb/>
lung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker aus-<lb/>
gebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in<lb/>
gleichem Verhältnis mit den letzteren, soda&#x017F;s erhebliche ab-<lb/>
solute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren<lb/>
gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen<lb/>
wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Ge-<lb/>
bildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der grö&#x017F;ste, wo<lb/>
auch die letzteren schon ein höheres Ma&#x017F;s von Bildung besitzen,<lb/>
als bei grö&#x017F;serer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts.<lb/>
Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewi&#x017F;s ist<lb/>
die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsver-<lb/>
fassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, anderer-<lb/>
seits im Durchschnitt der bewu&#x017F;sten Gesinnungen an den<lb/>
Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewi&#x017F;s aber ist die<lb/>
Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den laster-<lb/>
haften Handlungen vergrö&#x017F;sert; die absolute Höhe der Diffe-<lb/>
renzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus<lb/>
beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute<lb/>
Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar,<lb/>
wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0091] X 1. gekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen schein- baren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das Verhältnis schematisch so denken, daſs der früheste Zustand ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Gering- fügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe. Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, daſs die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe. Die Folge davon wird sein, daſs der Abstand zwischen beiden sich immer vergröſsert, daſs das sociale Niveau im Verhältnis zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen: erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe, ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen. Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kultur- vorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten ent- behrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung und der der oberen Stände auſserordentlich viel weiter ge- worden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen müssen, ein gröſserer, als in den überhaupt „kindlicheren“ Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Indivi- duums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwick- lung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker aus- gebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in gleichem Verhältnis mit den letzteren, sodaſs erhebliche ab- solute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Ge- bildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der gröſste, wo auch die letzteren schon ein höheres Maſs von Bildung besitzen, als bei gröſserer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts. Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewiſs ist die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsver- fassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, anderer- seits im Durchschnitt der bewuſsten Gesinnungen an den Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewiſs aber ist die Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den laster- haften Handlungen vergröſsert; die absolute Höhe der Diffe- renzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar, wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/91
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/91>, abgerufen am 03.12.2024.