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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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einfacher Vorstellungen; die Wahrscheinlichkeit ist zu gering,
dass jedes Mitglied einer grösseren Masse einen mannichfalti-
geren Gedankenkomplex in Bewusstsein und Überzeugung
trägt. Da nun aber angesichts der Kompliciertheit unserer
Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere
Ansprüche negierende sein muss, so begreifen wir daraus die
Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die grossen Massen
in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden,
für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden, und ver-
stehen auch, weshalb gerade diejenigen Religionen, die alle
Vermittelung, alle Aufnahme andersartiger Bestandteile am
schroffsten und einseitigsten von sich abweisen, die grösste
Herrschaft über die Gemüter der Masse erlangten.

Dem stellt sich scheinbar die manchmal gehörte Behaup-
tung entgegen, dass religiöse Gemeinschaften um so kleiner
seien, je geringer ihr dogmatischer Besitz, und dass der Um-
fang des Glaubens im geraden Verhältnis zu der Zahl der
Bekenner stehe. Da ein differenzierterer Geist dazu gehört,
um eine grosse Anzahl von Vorstellungen, als um wenige
zu beherbergen, so würde hiernach gerade die grössere Gruppe,
falls ihr als solcher die mannichfaltigere Glaubensmasse zu-
käme, sich in der grösseren geistigen Differenziertheit zu-
sammenfinden. Allein die Thatsache selbst zugegeben, be-
stätigt sie doch die Regel, statt eine Ausnahme von ihr zu
bilden. Denn auf religiösem Gebiet stellt gerade Einheit und
Einfachheit sehr viel grössere Ansprüche an Vertiefung des
Denkens und Fühlens als bunte Fülle, wie denn auch die
scheinbare Differenziertheit des Polytheismus dem Monotheis-
mus gegenüber als die primitive Stufe auftritt.

Steht nun ein Angehöriger einer Gruppe sehr niedrig,
so ist das Gebiet, das ihm mit dieser gemeinsam ist, relativ
gross. Dieses Gemeinsame selbst muss aber, absolut genommen,
um so niedriger und roher sein, je mehr solcher Einzelnen
es giebt, da ein höheres Gemeinsames natürlich nur da möglich
ist, wo die einzelnen Bestandteile der Gruppe ein solches auf-
weisen; die relative Niedrigkeit der Ausbildung, die die Mit-
glieder einer Gruppe zeigen -- relativ in ihrem Verhältnis
zum Gruppenbesitz -- bedeutet zugleich die absolute Niedrigkeit
des letzteren und umgekehrt. Es wäre ein wenngleich be-
stechender, so doch oberflächlicher Schluss, dass bei hoher
Differenziertheit der Einzelnen von einander das gemeinsame
Gebiet mehr und mehr verkleinert und auf die unentbehrlich-
sten und also niedrigsten Eigenschaften und Funktionen ein-
geschränkt würde. Unsere vorige Abhandlung beruht zwar auf
dem Gedanken, dass, je ausgedehnter ein socialer Kreis ist, desto
Wenigeres nur ihm gemeinsam sein kann, und dass die Aus-
dehnung nur durch gesteigerte Differenzierung möglich sei,
sodass diese letztere der Grösse des gemeinsamen Inhalts um-

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einfacher Vorstellungen; die Wahrscheinlichkeit ist zu gering,
daſs jedes Mitglied einer gröſseren Masse einen mannichfalti-
geren Gedankenkomplex in Bewuſstsein und Überzeugung
trägt. Da nun aber angesichts der Kompliciertheit unserer
Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere
Ansprüche negierende sein muſs, so begreifen wir daraus die
Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die groſsen Massen
in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden,
für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden, und ver-
stehen auch, weshalb gerade diejenigen Religionen, die alle
Vermittelung, alle Aufnahme andersartiger Bestandteile am
schroffsten und einseitigsten von sich abweisen, die gröſste
Herrschaft über die Gemüter der Masse erlangten.

Dem stellt sich scheinbar die manchmal gehörte Behaup-
tung entgegen, daſs religiöse Gemeinschaften um so kleiner
seien, je geringer ihr dogmatischer Besitz, und dass der Um-
fang des Glaubens im geraden Verhältnis zu der Zahl der
Bekenner stehe. Da ein differenzierterer Geist dazu gehört,
um eine groſse Anzahl von Vorstellungen, als um wenige
zu beherbergen, so würde hiernach gerade die gröſsere Gruppe,
falls ihr als solcher die mannichfaltigere Glaubensmasse zu-
käme, sich in der gröſseren geistigen Differenziertheit zu-
sammenfinden. Allein die Thatsache selbst zugegeben, be-
stätigt sie doch die Regel, statt eine Ausnahme von ihr zu
bilden. Denn auf religiösem Gebiet stellt gerade Einheit und
Einfachheit sehr viel gröſsere Ansprüche an Vertiefung des
Denkens und Fühlens als bunte Fülle, wie denn auch die
scheinbare Differenziertheit des Polytheismus dem Monotheis-
mus gegenüber als die primitive Stufe auftritt.

Steht nun ein Angehöriger einer Gruppe sehr niedrig,
so ist das Gebiet, das ihm mit dieser gemeinsam ist, relativ
groſs. Dieses Gemeinsame selbst muſs aber, absolut genommen,
um so niedriger und roher sein, je mehr solcher Einzelnen
es giebt, da ein höheres Gemeinsames natürlich nur da möglich
ist, wo die einzelnen Bestandteile der Gruppe ein solches auf-
weisen; die relative Niedrigkeit der Ausbildung, die die Mit-
glieder einer Gruppe zeigen — relativ in ihrem Verhältnis
zum Gruppenbesitz — bedeutet zugleich die absolute Niedrigkeit
des letzteren und umgekehrt. Es wäre ein wenngleich be-
stechender, so doch oberflächlicher Schluſs, daſs bei hoher
Differenziertheit der Einzelnen von einander das gemeinsame
Gebiet mehr und mehr verkleinert und auf die unentbehrlich-
sten und also niedrigsten Eigenschaften und Funktionen ein-
geschränkt würde. Unsere vorige Abhandlung beruht zwar auf
dem Gedanken, daſs, je ausgedehnter ein socialer Kreis ist, desto
Wenigeres nur ihm gemeinsam sein kann, und daſs die Aus-
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[76/0090] X 1. einfacher Vorstellungen; die Wahrscheinlichkeit ist zu gering, daſs jedes Mitglied einer gröſseren Masse einen mannichfalti- geren Gedankenkomplex in Bewuſstsein und Überzeugung trägt. Da nun aber angesichts der Kompliciertheit unserer Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere Ansprüche negierende sein muſs, so begreifen wir daraus die Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die groſsen Massen in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden, für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden, und ver- stehen auch, weshalb gerade diejenigen Religionen, die alle Vermittelung, alle Aufnahme andersartiger Bestandteile am schroffsten und einseitigsten von sich abweisen, die gröſste Herrschaft über die Gemüter der Masse erlangten. Dem stellt sich scheinbar die manchmal gehörte Behaup- tung entgegen, daſs religiöse Gemeinschaften um so kleiner seien, je geringer ihr dogmatischer Besitz, und dass der Um- fang des Glaubens im geraden Verhältnis zu der Zahl der Bekenner stehe. Da ein differenzierterer Geist dazu gehört, um eine groſse Anzahl von Vorstellungen, als um wenige zu beherbergen, so würde hiernach gerade die gröſsere Gruppe, falls ihr als solcher die mannichfaltigere Glaubensmasse zu- käme, sich in der gröſseren geistigen Differenziertheit zu- sammenfinden. Allein die Thatsache selbst zugegeben, be- stätigt sie doch die Regel, statt eine Ausnahme von ihr zu bilden. Denn auf religiösem Gebiet stellt gerade Einheit und Einfachheit sehr viel gröſsere Ansprüche an Vertiefung des Denkens und Fühlens als bunte Fülle, wie denn auch die scheinbare Differenziertheit des Polytheismus dem Monotheis- mus gegenüber als die primitive Stufe auftritt. Steht nun ein Angehöriger einer Gruppe sehr niedrig, so ist das Gebiet, das ihm mit dieser gemeinsam ist, relativ groſs. Dieses Gemeinsame selbst muſs aber, absolut genommen, um so niedriger und roher sein, je mehr solcher Einzelnen es giebt, da ein höheres Gemeinsames natürlich nur da möglich ist, wo die einzelnen Bestandteile der Gruppe ein solches auf- weisen; die relative Niedrigkeit der Ausbildung, die die Mit- glieder einer Gruppe zeigen — relativ in ihrem Verhältnis zum Gruppenbesitz — bedeutet zugleich die absolute Niedrigkeit des letzteren und umgekehrt. Es wäre ein wenngleich be- stechender, so doch oberflächlicher Schluſs, daſs bei hoher Differenziertheit der Einzelnen von einander das gemeinsame Gebiet mehr und mehr verkleinert und auf die unentbehrlich- sten und also niedrigsten Eigenschaften und Funktionen ein- geschränkt würde. Unsere vorige Abhandlung beruht zwar auf dem Gedanken, daſs, je ausgedehnter ein socialer Kreis ist, desto Wenigeres nur ihm gemeinsam sein kann, und daſs die Aus- dehnung nur durch gesteigerte Differenzierung möglich sei, sodaſs diese letztere der Gröſse des gemeinsamen Inhalts um-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/90>, abgerufen am 04.05.2024.