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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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wöhnlich verloren geht, sowie die Partei sich vergrössert, was
Hand in Hand mit der Erweiterung des Parteiprogramms zu
geschehen pflegt.

Das sociale Ganze als solches fordert, um bestehen zu
können, ein gewisses Quantum von Ernährung, welches ganz
wie beim einzelnen Organismus nicht im gleichen Verhältnis
der Grösse jenes wächst; infolge dessen wird, wo nur ver-
hältnismässig wenige Mitglieder die Gruppe bilden, jedes der-
selben mehr zur Erhaltung der Gruppe beitragen müssen,
als wo dies einer grösseren Anzahl obliegt; so bemerken wir,
dass oft die Kommunallasten in kleinen Städten relativ viel
grössere sind, als in grösseren; gewisse Ansprüche der Gesell-
schaft bleiben die gleichen, ob diese nun klein oder gross ist,
und fordern deshalb von dem Einzelnen um so stärkere Opfer,
auf je wenigere sie sich verteilen. Der Umweg der folgenden
Überlegung führt zu dem gleichen Endpunkt.

Der sociale Organismus zeigt denjenigen analoge Erschei-
nungen, die für das einzelne Lebewesen zur Annahme einer
besonderen Lebenskraft geführt haben. Die wunderbare
Zähigkeit, mit der der Körper die Entziehung von Bedingungen
erträgt, an die normalerweise seine Ernährung und der Be-
stand seiner Form geknüpft ist; der Widerstand, den er po-
sitiven Störungen entgegensetzt, indem er von innen heraus
Kräfte entfaltet, die gerade in dem Masse disponibel scheinen,
dessen es zur Überwindung des augenblicklichen Angriffs be-
darf; endlich darüber noch hinausgehend das Wiederwachsen
verletzter oder verlorener Teile, das gewissermassen von selbst
und durch eine innerliche Triebkraft das wie auch immer be-
schädigte Ganze herzustellen vermag oder wenigstens strebt --
das alles schien auf eine besondere Kraft hinzuweisen, die,
über allen einzelnen Teilen stehend und von ihnen unab-
hängig, das Ganze als solches in seinem Bestande erhält.
Ohne nun eine mystische Harmonie hinzuzuziehen, bemerken
wir doch an dem gesellschaftlichen Ganzen eine ähnliche
Widerstandskraft, welche sich proportional den Ansprüchen
entfaltet, die äussere Angriffe an sie stellen, eine Heilkraft
gegenüber zugefügten Beschädigungen, eine Selbsterhaltung,
deren äussere Quellen scheinbar nicht aufzufinden sind, und
die oft das Ganze noch zusammenhält, wenn ihm längst die
gesunden Säfte vertrocknet und der Zufluss neuer Nahrung
abgeschnitten ist. Nun hat man sich aber überzeugt, dass
jene Lebenskraft doch kein besonderes, über den Teilen des
Organismus schwebendes Agens ist, sondern höchstens als zu-
sammenfassender Ausdruck für die Wechselwirkung der Teile
gelten kann; kein einziger Teil eines Körpers bewegt, erhält
oder ergänzt sich in einer Weise, die nicht auch ausserhalb
des Organismus herstellbar wäre, wenn man ihm die gleichen
mechanischen und chemischen Reize darböte; und nicht werden

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wöhnlich verloren geht, sowie die Partei sich vergröſsert, was
Hand in Hand mit der Erweiterung des Parteiprogramms zu
geschehen pflegt.

Das sociale Ganze als solches fordert, um bestehen zu
können, ein gewisses Quantum von Ernährung, welches ganz
wie beim einzelnen Organismus nicht im gleichen Verhältnis
der Gröſse jenes wächst; infolge dessen wird, wo nur ver-
hältnismäſsig wenige Mitglieder die Gruppe bilden, jedes der-
selben mehr zur Erhaltung der Gruppe beitragen müssen,
als wo dies einer gröſseren Anzahl obliegt; so bemerken wir,
daſs oft die Kommunallasten in kleinen Städten relativ viel
gröſsere sind, als in gröſseren; gewisse Ansprüche der Gesell-
schaft bleiben die gleichen, ob diese nun klein oder groſs ist,
und fordern deshalb von dem Einzelnen um so stärkere Opfer,
auf je wenigere sie sich verteilen. Der Umweg der folgenden
Überlegung führt zu dem gleichen Endpunkt.

Der sociale Organismus zeigt denjenigen analoge Erschei-
nungen, die für das einzelne Lebewesen zur Annahme einer
besonderen Lebenskraft geführt haben. Die wunderbare
Zähigkeit, mit der der Körper die Entziehung von Bedingungen
erträgt, an die normalerweise seine Ernährung und der Be-
stand seiner Form geknüpft ist; der Widerstand, den er po-
sitiven Störungen entgegensetzt, indem er von innen heraus
Kräfte entfaltet, die gerade in dem Maſse disponibel scheinen,
dessen es zur Überwindung des augenblicklichen Angriffs be-
darf; endlich darüber noch hinausgehend das Wiederwachsen
verletzter oder verlorener Teile, das gewissermaſsen von selbst
und durch eine innerliche Triebkraft das wie auch immer be-
schädigte Ganze herzustellen vermag oder wenigstens strebt —
das alles schien auf eine besondere Kraft hinzuweisen, die,
über allen einzelnen Teilen stehend und von ihnen unab-
hängig, das Ganze als solches in seinem Bestande erhält.
Ohne nun eine mystische Harmonie hinzuzuziehen, bemerken
wir doch an dem gesellschaftlichen Ganzen eine ähnliche
Widerstandskraft, welche sich proportional den Ansprüchen
entfaltet, die äuſsere Angriffe an sie stellen, eine Heilkraft
gegenüber zugefügten Beschädigungen, eine Selbsterhaltung,
deren äuſsere Quellen scheinbar nicht aufzufinden sind, und
die oft das Ganze noch zusammenhält, wenn ihm längst die
gesunden Säfte vertrocknet und der Zufluſs neuer Nahrung
abgeschnitten ist. Nun hat man sich aber überzeugt, daſs
jene Lebenskraft doch kein besonderes, über den Teilen des
Organismus schwebendes Agens ist, sondern höchstens als zu-
sammenfassender Ausdruck für die Wechselwirkung der Teile
gelten kann; kein einziger Teil eines Körpers bewegt, erhält
oder ergänzt sich in einer Weise, die nicht auch auſserhalb
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[23/0037] X 1. wöhnlich verloren geht, sowie die Partei sich vergröſsert, was Hand in Hand mit der Erweiterung des Parteiprogramms zu geschehen pflegt. Das sociale Ganze als solches fordert, um bestehen zu können, ein gewisses Quantum von Ernährung, welches ganz wie beim einzelnen Organismus nicht im gleichen Verhältnis der Gröſse jenes wächst; infolge dessen wird, wo nur ver- hältnismäſsig wenige Mitglieder die Gruppe bilden, jedes der- selben mehr zur Erhaltung der Gruppe beitragen müssen, als wo dies einer gröſseren Anzahl obliegt; so bemerken wir, daſs oft die Kommunallasten in kleinen Städten relativ viel gröſsere sind, als in gröſseren; gewisse Ansprüche der Gesell- schaft bleiben die gleichen, ob diese nun klein oder groſs ist, und fordern deshalb von dem Einzelnen um so stärkere Opfer, auf je wenigere sie sich verteilen. Der Umweg der folgenden Überlegung führt zu dem gleichen Endpunkt. Der sociale Organismus zeigt denjenigen analoge Erschei- nungen, die für das einzelne Lebewesen zur Annahme einer besonderen Lebenskraft geführt haben. Die wunderbare Zähigkeit, mit der der Körper die Entziehung von Bedingungen erträgt, an die normalerweise seine Ernährung und der Be- stand seiner Form geknüpft ist; der Widerstand, den er po- sitiven Störungen entgegensetzt, indem er von innen heraus Kräfte entfaltet, die gerade in dem Maſse disponibel scheinen, dessen es zur Überwindung des augenblicklichen Angriffs be- darf; endlich darüber noch hinausgehend das Wiederwachsen verletzter oder verlorener Teile, das gewissermaſsen von selbst und durch eine innerliche Triebkraft das wie auch immer be- schädigte Ganze herzustellen vermag oder wenigstens strebt — das alles schien auf eine besondere Kraft hinzuweisen, die, über allen einzelnen Teilen stehend und von ihnen unab- hängig, das Ganze als solches in seinem Bestande erhält. Ohne nun eine mystische Harmonie hinzuzuziehen, bemerken wir doch an dem gesellschaftlichen Ganzen eine ähnliche Widerstandskraft, welche sich proportional den Ansprüchen entfaltet, die äuſsere Angriffe an sie stellen, eine Heilkraft gegenüber zugefügten Beschädigungen, eine Selbsterhaltung, deren äuſsere Quellen scheinbar nicht aufzufinden sind, und die oft das Ganze noch zusammenhält, wenn ihm längst die gesunden Säfte vertrocknet und der Zufluſs neuer Nahrung abgeschnitten ist. Nun hat man sich aber überzeugt, daſs jene Lebenskraft doch kein besonderes, über den Teilen des Organismus schwebendes Agens ist, sondern höchstens als zu- sammenfassender Ausdruck für die Wechselwirkung der Teile gelten kann; kein einziger Teil eines Körpers bewegt, erhält oder ergänzt sich in einer Weise, die nicht auch auſserhalb des Organismus herstellbar wäre, wenn man ihm die gleichen mechanischen und chemischen Reize darböte; und nicht werden

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/37>, abgerufen am 29.03.2024.