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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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In Bezug auf die reale Zusammengehörigkeit scheint es
allerdings, als ob in der primitiven Gruppe das Vererbungs-
prinzip, das auf Zusammenhang und Gleichheit der Individuen
geht, gegenüber dem Anpassungsprinzip, das auf Verselbstän-
digung und Variabilität geht, im Übergewicht wäre. Man hat
mit Recht hervorgehoben, dass der sociale Zusammenschluss
eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampfe ums
Dasein ist und sich deshalb wahrscheinlich durch natürliche
Zuchtwahl zu seiner thatsächlichen Enge und Strenge erhoben
hat. Je kleiner aber die Gruppe ist, die dem Einzelnen die
Gesamtheit der ihm nötigen Anlehnungen bietet, und je weniger
er ausserhalb gerade dieser die Möglichkeit einer Existenz
findet, desto mehr muss er mit ihr verschmelzen. Die Ver-
selbständigung und Loslösung des Individuums von dem Boden
der Allgemeinheit geschieht durch die Fülle und Verschieden-
artigkeit der Vererbungen und Lebensbeziehungen; je mehre
davon jeder zu Lehen trägt, desto unwahrscheinlicher ist die
Wiederholung der gleichen Kombination, desto grösser die
Möglichkeit, sich von einer Anzahl von Beziehungen zu Gun-
sten anderer zu lösen. Wir fühlen uns enger verknüpft und
sind es auch thatsächlich, wenn nur wenige Fäden uns binden,
die aber doch alle Richtungen unseres Thuns und Empfindens
leiten und eben wegen dieser geringen Anzahl stets ganz im
Bewusstsein bleiben; wo viele nach den verschiedensten Rich-
tungen verlaufende Bindungen statthaben, erscheint die Ab-
hängigkeit von dieser Totalität kleiner, weil sie in Hinsicht
jeder einzelnen kleiner ist, und sie ist es auch insofern, als
die hervorragende Bedeutung des Einen oder des Andern uns
jedenfalls dem Ganzen als Ganzem gegenüber grössere Frei-
heit giebt. Je einfacher die realen und idealen Kräfte sind,
die eine Gemeinschaft zusammenbinden, welche die wesent-
lichen Lebensbeziehungen des Einzelnen einschliesst, desto
enger und solidarischer ist der Zusammenhang zwischen diesen
und dem Ganzen; aber desto kleiner kann natürlich das letztere
nur sein. Die Geschichte der Religionen giebt dafür treffende
Analogieen. Die kleinen Gemeinden des Urchristentums
hatten einen verhältnismässig geringen Besitz an Dogmen;
aber sie wurden durch diese in Zusammenhänge gebracht,
die, von unzerreissbarer Stärke, jeden an jeden unbedingt
banden. In demselben Masse, in dem der Kreis des christ-
lichen Glaubens sich äusserlich erweiterte, wuchs auch der
Dogmenbesitz und verminderte sich zugleich die solidarische
Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinde. Der Entwicke-
lungsprozess fast aller Parteien zeigt den gleichen Typus:
in der ersten Periode des Grundgedankens der Partei, also
gleichsam in der primitiven Form der Gruppenbildung, ist
die Partei einerseits klein, andererseits aber von einer Ent-
schlossenheit und Festigkeit des Zusammenhanges, der ge-

X 1.

In Bezug auf die reale Zusammengehörigkeit scheint es
allerdings, als ob in der primitiven Gruppe das Vererbungs-
prinzip, das auf Zusammenhang und Gleichheit der Individuen
geht, gegenüber dem Anpassungsprinzip, das auf Verselbstän-
digung und Variabilität geht, im Übergewicht wäre. Man hat
mit Recht hervorgehoben, daſs der sociale Zusammenschluſs
eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampfe ums
Dasein ist und sich deshalb wahrscheinlich durch natürliche
Zuchtwahl zu seiner thatsächlichen Enge und Strenge erhoben
hat. Je kleiner aber die Gruppe ist, die dem Einzelnen die
Gesamtheit der ihm nötigen Anlehnungen bietet, und je weniger
er auſserhalb gerade dieser die Möglichkeit einer Existenz
findet, desto mehr muſs er mit ihr verschmelzen. Die Ver-
selbständigung und Loslösung des Individuums von dem Boden
der Allgemeinheit geschieht durch die Fülle und Verschieden-
artigkeit der Vererbungen und Lebensbeziehungen; je mehre
davon jeder zu Lehen trägt, desto unwahrscheinlicher ist die
Wiederholung der gleichen Kombination, desto gröſser die
Möglichkeit, sich von einer Anzahl von Beziehungen zu Gun-
sten anderer zu lösen. Wir fühlen uns enger verknüpft und
sind es auch thatsächlich, wenn nur wenige Fäden uns binden,
die aber doch alle Richtungen unseres Thuns und Empfindens
leiten und eben wegen dieser geringen Anzahl stets ganz im
Bewuſstsein bleiben; wo viele nach den verschiedensten Rich-
tungen verlaufende Bindungen statthaben, erscheint die Ab-
hängigkeit von dieser Totalität kleiner, weil sie in Hinsicht
jeder einzelnen kleiner ist, und sie ist es auch insofern, als
die hervorragende Bedeutung des Einen oder des Andern uns
jedenfalls dem Ganzen als Ganzem gegenüber gröſsere Frei-
heit giebt. Je einfacher die realen und idealen Kräfte sind,
die eine Gemeinschaft zusammenbinden, welche die wesent-
lichen Lebensbeziehungen des Einzelnen einschlieſst, desto
enger und solidarischer ist der Zusammenhang zwischen diesen
und dem Ganzen; aber desto kleiner kann natürlich das letztere
nur sein. Die Geschichte der Religionen giebt dafür treffende
Analogieen. Die kleinen Gemeinden des Urchristentums
hatten einen verhältnismäſsig geringen Besitz an Dogmen;
aber sie wurden durch diese in Zusammenhänge gebracht,
die, von unzerreiſsbarer Stärke, jeden an jeden unbedingt
banden. In demselben Maſse, in dem der Kreis des christ-
lichen Glaubens sich äuſserlich erweiterte, wuchs auch der
Dogmenbesitz und verminderte sich zugleich die solidarische
Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinde. Der Entwicke-
lungsprozeſs fast aller Parteien zeigt den gleichen Typus:
in der ersten Periode des Grundgedankens der Partei, also
gleichsam in der primitiven Form der Gruppenbildung, ist
die Partei einerseits klein, andererseits aber von einer Ent-
schlossenheit und Festigkeit des Zusammenhanges, der ge-

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[22/0036] X 1. In Bezug auf die reale Zusammengehörigkeit scheint es allerdings, als ob in der primitiven Gruppe das Vererbungs- prinzip, das auf Zusammenhang und Gleichheit der Individuen geht, gegenüber dem Anpassungsprinzip, das auf Verselbstän- digung und Variabilität geht, im Übergewicht wäre. Man hat mit Recht hervorgehoben, daſs der sociale Zusammenschluſs eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampfe ums Dasein ist und sich deshalb wahrscheinlich durch natürliche Zuchtwahl zu seiner thatsächlichen Enge und Strenge erhoben hat. Je kleiner aber die Gruppe ist, die dem Einzelnen die Gesamtheit der ihm nötigen Anlehnungen bietet, und je weniger er auſserhalb gerade dieser die Möglichkeit einer Existenz findet, desto mehr muſs er mit ihr verschmelzen. Die Ver- selbständigung und Loslösung des Individuums von dem Boden der Allgemeinheit geschieht durch die Fülle und Verschieden- artigkeit der Vererbungen und Lebensbeziehungen; je mehre davon jeder zu Lehen trägt, desto unwahrscheinlicher ist die Wiederholung der gleichen Kombination, desto gröſser die Möglichkeit, sich von einer Anzahl von Beziehungen zu Gun- sten anderer zu lösen. Wir fühlen uns enger verknüpft und sind es auch thatsächlich, wenn nur wenige Fäden uns binden, die aber doch alle Richtungen unseres Thuns und Empfindens leiten und eben wegen dieser geringen Anzahl stets ganz im Bewuſstsein bleiben; wo viele nach den verschiedensten Rich- tungen verlaufende Bindungen statthaben, erscheint die Ab- hängigkeit von dieser Totalität kleiner, weil sie in Hinsicht jeder einzelnen kleiner ist, und sie ist es auch insofern, als die hervorragende Bedeutung des Einen oder des Andern uns jedenfalls dem Ganzen als Ganzem gegenüber gröſsere Frei- heit giebt. Je einfacher die realen und idealen Kräfte sind, die eine Gemeinschaft zusammenbinden, welche die wesent- lichen Lebensbeziehungen des Einzelnen einschlieſst, desto enger und solidarischer ist der Zusammenhang zwischen diesen und dem Ganzen; aber desto kleiner kann natürlich das letztere nur sein. Die Geschichte der Religionen giebt dafür treffende Analogieen. Die kleinen Gemeinden des Urchristentums hatten einen verhältnismäſsig geringen Besitz an Dogmen; aber sie wurden durch diese in Zusammenhänge gebracht, die, von unzerreiſsbarer Stärke, jeden an jeden unbedingt banden. In demselben Maſse, in dem der Kreis des christ- lichen Glaubens sich äuſserlich erweiterte, wuchs auch der Dogmenbesitz und verminderte sich zugleich die solidarische Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinde. Der Entwicke- lungsprozeſs fast aller Parteien zeigt den gleichen Typus: in der ersten Periode des Grundgedankens der Partei, also gleichsam in der primitiven Form der Gruppenbildung, ist die Partei einerseits klein, andererseits aber von einer Ent- schlossenheit und Festigkeit des Zusammenhanges, der ge-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/36>, abgerufen am 28.03.2024.