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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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wickeln, resp. bewältigen. Man kann vielleicht behaupten,
dass sich die Proportion zwischen beiden für jedes Individuum
etwas anders, als für jedes andere stellen wird, und dass die
Richtigstellung derselben zu den letzten Zielen praktischer
Lebensweisheit gehört. Es pflegt erst durch die Reibung zwi-
schen den beiden Tendenzen ausserordentlich viel Kraft ver-
schwendet zu werden, ehe man sie so auf die verschiedenen
Aufgaben des Lebens verteilt, dass dem Prinzip der höchsten
Kraftersparnis genügt wird.

Man muss indes im Auge behalten, dass es sich im letzten
Grunde hier auch mehr um einen graduellen, als um einen
prinzipiellen Unterschied handelt. Vermöge der Enge des Be-
wusstseins, die den Inhalt desselben in jedem gegebenen Augen-
blick auf eine oder äusserst wenige Vorstellungen beschränkt,
ist doch auch das sogenannte Nebeneinander der verschie-
denen inneren und äusseren Bethätigungen und Entwicklungen,
genau genommen, ein Nacheinander. Dass wir eine gewisse
Periode als Einheit abgrenzen und das in ihr Vorgehende
als nebeneinander vorgehend bezeichnen, ist schliesslich etwas
rein Willkürliches. Wir vernachlässigen die kleinen Zeit-
unterschiede zwischen dem Auftauchen der Entwicklungs-
inhalte in einer Periode und betrachten sie als gleichzeitig;
die Grösse dieses vernachlässigten Zeitunterschiedes hat aber
keine objektive Grenze. Wenn also in dem obigen pädago-
gischen Falle mehrere Lehrgegenstände nebeneinander betrieben
werden, so ist dies doch, genau genommen, kein Nebeneinander,
sondern ein Nacheinander, das nur kürzere Intervalle zeigt,
als in dem Falle, den wir im engeren Sinne so bezeichnen.
Für das Nebeneinander bleiben demnach nur zweierlei speci-
fische Bedeutungen bestehen. Zunächst das wechselseitige
Nacheinander der Inhalte; zwei Entwicklungsreihen bezeichnen
wir als gleichzeitig, wenn auf einen Schritt in der einen
immer ein solcher in der andern und dann wieder ein Zurück-
kehren zu jener erfolgt; sie sind so als Ganze in demselben
Zeitabschnitt befasst, wenngleich ihre Teile immer verschie-
dene Unterabteilungen desselben erfüllen. Zweitens bestehen
die Fähigkeiten und Dispositionen, die durch nacheinander-
folgende Thätigkeiten erworben werden, thatsächlich neben-
einander, sodass der eintretende Reiz jede beliebige erwecken
kann; neben dem Nacheinander der Erwerbungen und dem
Nacheinander der Ausübungen besteht das Nebeneinander der
latenten Kräfte. Sind dies die beiden Formen, in denen das
Nebeneinander der Differenzierungen seinen genaueren Sinn
findet, so wird die Konkurrenz desselben mit der Tendenz
des Nacheinander sich folgendermassen darstellen. Wo es in
einem abwechselnden Auftreten der Thätigkeiten besteht, han-
delt es sich um die Frage, wie lange jedes Element des Kom-

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wickeln, resp. bewältigen. Man kann vielleicht behaupten,
daſs sich die Proportion zwischen beiden für jedes Individuum
etwas anders, als für jedes andere stellen wird, und daſs die
Richtigstellung derselben zu den letzten Zielen praktischer
Lebensweisheit gehört. Es pflegt erst durch die Reibung zwi-
schen den beiden Tendenzen auſserordentlich viel Kraft ver-
schwendet zu werden, ehe man sie so auf die verschiedenen
Aufgaben des Lebens verteilt, daſs dem Prinzip der höchsten
Kraftersparnis genügt wird.

Man muſs indes im Auge behalten, daſs es sich im letzten
Grunde hier auch mehr um einen graduellen, als um einen
prinzipiellen Unterschied handelt. Vermöge der Enge des Be-
wuſstseins, die den Inhalt desselben in jedem gegebenen Augen-
blick auf eine oder äuſserst wenige Vorstellungen beschränkt,
ist doch auch das sogenannte Nebeneinander der verschie-
denen inneren und äuſseren Bethätigungen und Entwicklungen,
genau genommen, ein Nacheinander. Daſs wir eine gewisse
Periode als Einheit abgrenzen und das in ihr Vorgehende
als nebeneinander vorgehend bezeichnen, ist schlieſslich etwas
rein Willkürliches. Wir vernachlässigen die kleinen Zeit-
unterschiede zwischen dem Auftauchen der Entwicklungs-
inhalte in einer Periode und betrachten sie als gleichzeitig;
die Gröſse dieses vernachlässigten Zeitunterschiedes hat aber
keine objektive Grenze. Wenn also in dem obigen pädago-
gischen Falle mehrere Lehrgegenstände nebeneinander betrieben
werden, so ist dies doch, genau genommen, kein Nebeneinander,
sondern ein Nacheinander, das nur kürzere Intervalle zeigt,
als in dem Falle, den wir im engeren Sinne so bezeichnen.
Für das Nebeneinander bleiben demnach nur zweierlei speci-
fische Bedeutungen bestehen. Zunächst das wechselseitige
Nacheinander der Inhalte; zwei Entwicklungsreihen bezeichnen
wir als gleichzeitig, wenn auf einen Schritt in der einen
immer ein solcher in der andern und dann wieder ein Zurück-
kehren zu jener erfolgt; sie sind so als Ganze in demselben
Zeitabschnitt befaſst, wenngleich ihre Teile immer verschie-
dene Unterabteilungen desselben erfüllen. Zweitens bestehen
die Fähigkeiten und Dispositionen, die durch nacheinander-
folgende Thätigkeiten erworben werden, thatsächlich neben-
einander, sodaſs der eintretende Reiz jede beliebige erwecken
kann; neben dem Nacheinander der Erwerbungen und dem
Nacheinander der Ausübungen besteht das Nebeneinander der
latenten Kräfte. Sind dies die beiden Formen, in denen das
Nebeneinander der Differenzierungen seinen genaueren Sinn
findet, so wird die Konkurrenz desselben mit der Tendenz
des Nacheinander sich folgendermaſsen darstellen. Wo es in
einem abwechselnden Auftreten der Thätigkeiten besteht, han-
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[142/0156] X 1. wickeln, resp. bewältigen. Man kann vielleicht behaupten, daſs sich die Proportion zwischen beiden für jedes Individuum etwas anders, als für jedes andere stellen wird, und daſs die Richtigstellung derselben zu den letzten Zielen praktischer Lebensweisheit gehört. Es pflegt erst durch die Reibung zwi- schen den beiden Tendenzen auſserordentlich viel Kraft ver- schwendet zu werden, ehe man sie so auf die verschiedenen Aufgaben des Lebens verteilt, daſs dem Prinzip der höchsten Kraftersparnis genügt wird. Man muſs indes im Auge behalten, daſs es sich im letzten Grunde hier auch mehr um einen graduellen, als um einen prinzipiellen Unterschied handelt. Vermöge der Enge des Be- wuſstseins, die den Inhalt desselben in jedem gegebenen Augen- blick auf eine oder äuſserst wenige Vorstellungen beschränkt, ist doch auch das sogenannte Nebeneinander der verschie- denen inneren und äuſseren Bethätigungen und Entwicklungen, genau genommen, ein Nacheinander. Daſs wir eine gewisse Periode als Einheit abgrenzen und das in ihr Vorgehende als nebeneinander vorgehend bezeichnen, ist schlieſslich etwas rein Willkürliches. Wir vernachlässigen die kleinen Zeit- unterschiede zwischen dem Auftauchen der Entwicklungs- inhalte in einer Periode und betrachten sie als gleichzeitig; die Gröſse dieses vernachlässigten Zeitunterschiedes hat aber keine objektive Grenze. Wenn also in dem obigen pädago- gischen Falle mehrere Lehrgegenstände nebeneinander betrieben werden, so ist dies doch, genau genommen, kein Nebeneinander, sondern ein Nacheinander, das nur kürzere Intervalle zeigt, als in dem Falle, den wir im engeren Sinne so bezeichnen. Für das Nebeneinander bleiben demnach nur zweierlei speci- fische Bedeutungen bestehen. Zunächst das wechselseitige Nacheinander der Inhalte; zwei Entwicklungsreihen bezeichnen wir als gleichzeitig, wenn auf einen Schritt in der einen immer ein solcher in der andern und dann wieder ein Zurück- kehren zu jener erfolgt; sie sind so als Ganze in demselben Zeitabschnitt befaſst, wenngleich ihre Teile immer verschie- dene Unterabteilungen desselben erfüllen. Zweitens bestehen die Fähigkeiten und Dispositionen, die durch nacheinander- folgende Thätigkeiten erworben werden, thatsächlich neben- einander, sodaſs der eintretende Reiz jede beliebige erwecken kann; neben dem Nacheinander der Erwerbungen und dem Nacheinander der Ausübungen besteht das Nebeneinander der latenten Kräfte. Sind dies die beiden Formen, in denen das Nebeneinander der Differenzierungen seinen genaueren Sinn findet, so wird die Konkurrenz desselben mit der Tendenz des Nacheinander sich folgendermaſsen darstellen. Wo es in einem abwechselnden Auftreten der Thätigkeiten besteht, han- delt es sich um die Frage, wie lange jedes Element des Kom-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/156>, abgerufen am 28.04.2024.