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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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dern da ist, und unter günstigerer Zielsetzung für beide fort-
fallen würde: es ist das doppelt unzweckmässige Verhältnis,
dass Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzu-
legen. Wenn es das Ideal der Kultur ist, dass die Kräfte der
Menschen auf die Besiegung des Objekts, resp. der Natur, statt
auf die des Mitmenschen verwandt werden, so ist die Ver-
teilung der Arbeitsgebiete die grösste Förderung desselben;
und wenn die griechischen Socialpolitiker den eigentlich kauf-
männischen Beruf dem Staatswesen verderblich hielten und
nur den Landbau als geziemenden und gerechten Erwerb
gelten lassen wollten, da dieser seinen Nutzen nicht von Men-
schen und deren Beraubung nähme, so ist kein Zweifel, dass
der Mangel an Arbeitsteilung sie zu diesem Urteil berechtigte.
Denn die Gestattung des Landbaues erweist ihre Erkenntnis,
dass nur Hinwendung an das Objekt allein die Konkurrenz
besiegt, von der sie die Sprengung des Staatswesens fürch-
teten, und dass unter den damaligen, noch nicht arbeits-
geteilten Verhältnissen die Hinwendung an das Objekt un-
möglich wäre, ausser wo es sich um ein der Konkurrenz so
wenig zugängliches Objekt, wie das der Landbebauung, han-
delt. Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung be-
seitigen, die aus der Setzung des gleichen Zieles hervorgeht,
welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Be-
siegung des Mitbewerbers lenkt.

Die Betrachtung des Individuums zeigt dies von einer
anderen Seite. Wenn die Gesamtheit der Willens- und Denk-
akte eines Einzelnen als ein Ganzes seiner Gruppe gegenüber
sehr differenziert, in sich also sehr einheitlich ist, so werden
damit jene Umstimmungen, jener Wechsel der Innervierungen
vermieden, der bei grösserer Verschiedenheit der Denkrich-
tungen und Impulse notwendig ist. In unserm psychischen
Wesen ist etwas dem physischen Beharrungsvermögen wenig-
stens Analoges zu beobachten: ein Trieb, dem augenblicklich
herrschenden Gedanken auch weiter nachzuhängen, dem
jetzigen Wollen sich noch weiter zu überlassen, sich innerhalb
des einmal gegebenen Interessenkreises auch weiter zu be-
wegen. Wo nun ein Wechsel, ein Abspringen erfordert ist,
da muss diese Trägheitswirkung erst durch einen besonderen
Impuls überwunden werden; die neue Innervierung muss
stärker sein, als ihr Zweck an und für sich erfordert, weil
sie zunächst von einer anders gerichteten Kraftwirkung ge-
kreuzt wird und deren ablenkende Wirkung nur durch ver-
mehrte Energie paralysieren kann. Man darf sich jene phy-
sisch-psychische Analogie der vis inertiae vielleicht damit er-
klären, dass wir die Kraftsumme nie mit völliger Bestimmt-
heit berechnen können, die um eines gegebenen inneren oder
äusseren Zweckes willen aus dem latenten in den wirkenden
Zustand übergeführt werden muss; da aber das Zurückbleiben

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dern da ist, und unter günstigerer Zielsetzung für beide fort-
fallen würde: es ist das doppelt unzweckmäſsige Verhältnis,
daſs Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzu-
legen. Wenn es das Ideal der Kultur ist, daſs die Kräfte der
Menschen auf die Besiegung des Objekts, resp. der Natur, statt
auf die des Mitmenschen verwandt werden, so ist die Ver-
teilung der Arbeitsgebiete die gröſste Förderung desselben;
und wenn die griechischen Socialpolitiker den eigentlich kauf-
männischen Beruf dem Staatswesen verderblich hielten und
nur den Landbau als geziemenden und gerechten Erwerb
gelten lassen wollten, da dieser seinen Nutzen nicht von Men-
schen und deren Beraubung nähme, so ist kein Zweifel, daſs
der Mangel an Arbeitsteilung sie zu diesem Urteil berechtigte.
Denn die Gestattung des Landbaues erweist ihre Erkenntnis,
daſs nur Hinwendung an das Objekt allein die Konkurrenz
besiegt, von der sie die Sprengung des Staatswesens fürch-
teten, und daſs unter den damaligen, noch nicht arbeits-
geteilten Verhältnissen die Hinwendung an das Objekt un-
möglich wäre, auſser wo es sich um ein der Konkurrenz so
wenig zugängliches Objekt, wie das der Landbebauung, han-
delt. Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung be-
seitigen, die aus der Setzung des gleichen Zieles hervorgeht,
welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Be-
siegung des Mitbewerbers lenkt.

Die Betrachtung des Individuums zeigt dies von einer
anderen Seite. Wenn die Gesamtheit der Willens- und Denk-
akte eines Einzelnen als ein Ganzes seiner Gruppe gegenüber
sehr differenziert, in sich also sehr einheitlich ist, so werden
damit jene Umstimmungen, jener Wechsel der Innervierungen
vermieden, der bei gröſserer Verschiedenheit der Denkrich-
tungen und Impulse notwendig ist. In unserm psychischen
Wesen ist etwas dem physischen Beharrungsvermögen wenig-
stens Analoges zu beobachten: ein Trieb, dem augenblicklich
herrschenden Gedanken auch weiter nachzuhängen, dem
jetzigen Wollen sich noch weiter zu überlassen, sich innerhalb
des einmal gegebenen Interessenkreises auch weiter zu be-
wegen. Wo nun ein Wechsel, ein Abspringen erfordert ist,
da muſs diese Trägheitswirkung erst durch einen besonderen
Impuls überwunden werden; die neue Innervierung muſs
stärker sein, als ihr Zweck an und für sich erfordert, weil
sie zunächst von einer anders gerichteten Kraftwirkung ge-
kreuzt wird und deren ablenkende Wirkung nur durch ver-
mehrte Energie paralysieren kann. Man darf sich jene phy-
sisch-psychische Analogie der vis inertiae vielleicht damit er-
klären, daſs wir die Kraftsumme nie mit völliger Bestimmt-
heit berechnen können, die um eines gegebenen inneren oder
äuſseren Zweckes willen aus dem latenten in den wirkenden
Zustand übergeführt werden muſs; da aber das Zurückbleiben

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[125/0139] X 1. dern da ist, und unter günstigerer Zielsetzung für beide fort- fallen würde: es ist das doppelt unzweckmäſsige Verhältnis, daſs Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzu- legen. Wenn es das Ideal der Kultur ist, daſs die Kräfte der Menschen auf die Besiegung des Objekts, resp. der Natur, statt auf die des Mitmenschen verwandt werden, so ist die Ver- teilung der Arbeitsgebiete die gröſste Förderung desselben; und wenn die griechischen Socialpolitiker den eigentlich kauf- männischen Beruf dem Staatswesen verderblich hielten und nur den Landbau als geziemenden und gerechten Erwerb gelten lassen wollten, da dieser seinen Nutzen nicht von Men- schen und deren Beraubung nähme, so ist kein Zweifel, daſs der Mangel an Arbeitsteilung sie zu diesem Urteil berechtigte. Denn die Gestattung des Landbaues erweist ihre Erkenntnis, daſs nur Hinwendung an das Objekt allein die Konkurrenz besiegt, von der sie die Sprengung des Staatswesens fürch- teten, und daſs unter den damaligen, noch nicht arbeits- geteilten Verhältnissen die Hinwendung an das Objekt un- möglich wäre, auſser wo es sich um ein der Konkurrenz so wenig zugängliches Objekt, wie das der Landbebauung, han- delt. Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung be- seitigen, die aus der Setzung des gleichen Zieles hervorgeht, welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Be- siegung des Mitbewerbers lenkt. Die Betrachtung des Individuums zeigt dies von einer anderen Seite. Wenn die Gesamtheit der Willens- und Denk- akte eines Einzelnen als ein Ganzes seiner Gruppe gegenüber sehr differenziert, in sich also sehr einheitlich ist, so werden damit jene Umstimmungen, jener Wechsel der Innervierungen vermieden, der bei gröſserer Verschiedenheit der Denkrich- tungen und Impulse notwendig ist. In unserm psychischen Wesen ist etwas dem physischen Beharrungsvermögen wenig- stens Analoges zu beobachten: ein Trieb, dem augenblicklich herrschenden Gedanken auch weiter nachzuhängen, dem jetzigen Wollen sich noch weiter zu überlassen, sich innerhalb des einmal gegebenen Interessenkreises auch weiter zu be- wegen. Wo nun ein Wechsel, ein Abspringen erfordert ist, da muſs diese Trägheitswirkung erst durch einen besonderen Impuls überwunden werden; die neue Innervierung muſs stärker sein, als ihr Zweck an und für sich erfordert, weil sie zunächst von einer anders gerichteten Kraftwirkung ge- kreuzt wird und deren ablenkende Wirkung nur durch ver- mehrte Energie paralysieren kann. Man darf sich jene phy- sisch-psychische Analogie der vis inertiae vielleicht damit er- klären, daſs wir die Kraftsumme nie mit völliger Bestimmt- heit berechnen können, die um eines gegebenen inneren oder äuſseren Zweckes willen aus dem latenten in den wirkenden Zustand übergeführt werden muſs; da aber das Zurückbleiben

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/139>, abgerufen am 02.05.2024.