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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Kreises geschaffen sei, dessen Verhältnis zu den früheren un-
berechenbare Komplikationen ergeben würde. Nachdem die
Differenzierung der Arbeit ihre verschiedenartigen Zweige ge-
schaffen, legt das abstraktere Bewusstsein wieder eine Linie
hindurch, die das Gemeinsame dieser zu einem neuen socialen
Kreise zusammenschliesst. Ein ähnlicher, zu realen kollekti-
vistischen Einrichtungen führender Zusammenschluss schafft
den Kaufmannsstand als solchen. So lange die Arbeitsteilung
noch nicht sehr vorgeschritten ist, sondern eine ganze Anzahl
verwandter Aufgaben von dem gleichen Individuum, resp. dem
gleichen Berufskreise, gelöst wird, also nur eine geringere
Zahl von solchen vorhanden ist, da finden folgenreiche psycho-
logische Verschmelzungen leicht nach zwei Seiten hin statt,
oder vielmehr eine Einheit von Elementen, die von dem
Standpunkte späterer Differenziertheit als Verschmelzung be-
zeichnet wird, indes ungenau, da dieser Ausdruck eine vor-
herige Getrenntheit von erst später mit einander verschmel-
zenden Elementen anzudeuten scheint. Erstens ist der höhere
Begriff, der einer Anzahl verschiedenartiger Bethätigungen
gemeinsam ist, noch nicht hinreichend von diesen in ihrer
Einzelheit gelöst, um gemeinsame Handlungen und Einrich-
tungen hervorzurufen. So war es z. B. erst Sache der neue-
sten Kultur, dass die Frauen sich in grosser Anzahl zusammen-
thaten, um politische und sociale Rechte zu erringen oder
kollektive Veranstaltungen zu ökonomischen Unterstützungs-
und anderen Zwecken zu treffen, die nur die Frauen als
solche angingen; wir können annehmen, dass der Allgemein-
begriff Frau bis dahin für jede noch zu eng mit derjenigen
Ausgestaltung desselben, die sie selbst darstellte, verschmolzen
war, wofür es natürlich keinen Unterschied macht, ob die
Loslösung dieses Allgemeinbegriffs die Quelle praktischer
Gestaltungen ist oder umgekehrt äussere Notwendigkeiten zu
jener drängten. Die Bethätigungen der Frauen waren und
sind eben im allgemeinen noch zu ähnliche, als dass ein von
realem und praktischem Inhalt erfüllter Allgemeinbegriff hätte
entstehen hönnen, der ja überall erst durch verschieden-
artige
Einzelerscheinungen zum Bewusstsein gebracht wird;
gäbe es nur eine einzige Art von Bäumen, so würde es zur
Bildung des Begriffs Baum überhaupt nicht gekommen sein.
So neigen auch Menschen, die in sich stark differenziert,
vielfach ausgebildet und bethätigt sind, eher zu kosmopoliti-
schen Empfindungen und Überzeugungen, als einseitige Na-
turen, denen sich das allgemein Menschliche nur in dieser
beschränkten Ausgestaltung darstellt, da sie sich in andere
Persönlichkeiten nicht hineinzuversetzen und also zur Empfin-
dung des allen Gemeinsamen nicht durchzudringen vermögen.
Die Normen für den kaufmännischen Verkehr werden um so
reiner von den speciellen, für einen Zweig erforderlichen Be-

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Kreises geschaffen sei, dessen Verhältnis zu den früheren un-
berechenbare Komplikationen ergeben würde. Nachdem die
Differenzierung der Arbeit ihre verschiedenartigen Zweige ge-
schaffen, legt das abstraktere Bewuſstsein wieder eine Linie
hindurch, die das Gemeinsame dieser zu einem neuen socialen
Kreise zusammenschlieſst. Ein ähnlicher, zu realen kollekti-
vistischen Einrichtungen führender Zusammenschluſs schafft
den Kaufmannsstand als solchen. So lange die Arbeitsteilung
noch nicht sehr vorgeschritten ist, sondern eine ganze Anzahl
verwandter Aufgaben von dem gleichen Individuum, resp. dem
gleichen Berufskreise, gelöst wird, also nur eine geringere
Zahl von solchen vorhanden ist, da finden folgenreiche psycho-
logische Verschmelzungen leicht nach zwei Seiten hin statt,
oder vielmehr eine Einheit von Elementen, die von dem
Standpunkte späterer Differenziertheit als Verschmelzung be-
zeichnet wird, indes ungenau, da dieser Ausdruck eine vor-
herige Getrenntheit von erst später mit einander verschmel-
zenden Elementen anzudeuten scheint. Erstens ist der höhere
Begriff, der einer Anzahl verschiedenartiger Bethätigungen
gemeinsam ist, noch nicht hinreichend von diesen in ihrer
Einzelheit gelöst, um gemeinsame Handlungen und Einrich-
tungen hervorzurufen. So war es z. B. erst Sache der neue-
sten Kultur, daſs die Frauen sich in groſser Anzahl zusammen-
thaten, um politische und sociale Rechte zu erringen oder
kollektive Veranstaltungen zu ökonomischen Unterstützungs-
und anderen Zwecken zu treffen, die nur die Frauen als
solche angingen; wir können annehmen, daſs der Allgemein-
begriff Frau bis dahin für jede noch zu eng mit derjenigen
Ausgestaltung desselben, die sie selbst darstellte, verschmolzen
war, wofür es natürlich keinen Unterschied macht, ob die
Loslösung dieses Allgemeinbegriffs die Quelle praktischer
Gestaltungen ist oder umgekehrt äuſsere Notwendigkeiten zu
jener drängten. Die Bethätigungen der Frauen waren und
sind eben im allgemeinen noch zu ähnliche, als daſs ein von
realem und praktischem Inhalt erfüllter Allgemeinbegriff hätte
entstehen hönnen, der ja überall erst durch verschieden-
artige
Einzelerscheinungen zum Bewuſstsein gebracht wird;
gäbe es nur eine einzige Art von Bäumen, so würde es zur
Bildung des Begriffs Baum überhaupt nicht gekommen sein.
So neigen auch Menschen, die in sich stark differenziert,
vielfach ausgebildet und bethätigt sind, eher zu kosmopoliti-
schen Empfindungen und Überzeugungen, als einseitige Na-
turen, denen sich das allgemein Menschliche nur in dieser
beschränkten Ausgestaltung darstellt, da sie sich in andere
Persönlichkeiten nicht hineinzuversetzen und also zur Empfin-
dung des allen Gemeinsamen nicht durchzudringen vermögen.
Die Normen für den kaufmännischen Verkehr werden um so
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[110/0124] X 1. Kreises geschaffen sei, dessen Verhältnis zu den früheren un- berechenbare Komplikationen ergeben würde. Nachdem die Differenzierung der Arbeit ihre verschiedenartigen Zweige ge- schaffen, legt das abstraktere Bewuſstsein wieder eine Linie hindurch, die das Gemeinsame dieser zu einem neuen socialen Kreise zusammenschlieſst. Ein ähnlicher, zu realen kollekti- vistischen Einrichtungen führender Zusammenschluſs schafft den Kaufmannsstand als solchen. So lange die Arbeitsteilung noch nicht sehr vorgeschritten ist, sondern eine ganze Anzahl verwandter Aufgaben von dem gleichen Individuum, resp. dem gleichen Berufskreise, gelöst wird, also nur eine geringere Zahl von solchen vorhanden ist, da finden folgenreiche psycho- logische Verschmelzungen leicht nach zwei Seiten hin statt, oder vielmehr eine Einheit von Elementen, die von dem Standpunkte späterer Differenziertheit als Verschmelzung be- zeichnet wird, indes ungenau, da dieser Ausdruck eine vor- herige Getrenntheit von erst später mit einander verschmel- zenden Elementen anzudeuten scheint. Erstens ist der höhere Begriff, der einer Anzahl verschiedenartiger Bethätigungen gemeinsam ist, noch nicht hinreichend von diesen in ihrer Einzelheit gelöst, um gemeinsame Handlungen und Einrich- tungen hervorzurufen. So war es z. B. erst Sache der neue- sten Kultur, daſs die Frauen sich in groſser Anzahl zusammen- thaten, um politische und sociale Rechte zu erringen oder kollektive Veranstaltungen zu ökonomischen Unterstützungs- und anderen Zwecken zu treffen, die nur die Frauen als solche angingen; wir können annehmen, daſs der Allgemein- begriff Frau bis dahin für jede noch zu eng mit derjenigen Ausgestaltung desselben, die sie selbst darstellte, verschmolzen war, wofür es natürlich keinen Unterschied macht, ob die Loslösung dieses Allgemeinbegriffs die Quelle praktischer Gestaltungen ist oder umgekehrt äuſsere Notwendigkeiten zu jener drängten. Die Bethätigungen der Frauen waren und sind eben im allgemeinen noch zu ähnliche, als daſs ein von realem und praktischem Inhalt erfüllter Allgemeinbegriff hätte entstehen hönnen, der ja überall erst durch verschieden- artige Einzelerscheinungen zum Bewuſstsein gebracht wird; gäbe es nur eine einzige Art von Bäumen, so würde es zur Bildung des Begriffs Baum überhaupt nicht gekommen sein. So neigen auch Menschen, die in sich stark differenziert, vielfach ausgebildet und bethätigt sind, eher zu kosmopoliti- schen Empfindungen und Überzeugungen, als einseitige Na- turen, denen sich das allgemein Menschliche nur in dieser beschränkten Ausgestaltung darstellt, da sie sich in andere Persönlichkeiten nicht hineinzuversetzen und also zur Empfin- dung des allen Gemeinsamen nicht durchzudringen vermögen. Die Normen für den kaufmännischen Verkehr werden um so reiner von den speciellen, für einen Zweig erforderlichen Be-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/124>, abgerufen am 23.11.2024.