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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
schaft schliesst und ihm seinen eignen Purpurmantel schenkt;
nur so war die Sonderung der rein geistigen Bedeutung von
alledem möglich, was sonst als wertvoll galt, infolge deren
der venetianische Senat bei der Auslieferung Giordano Bruno's
an die Kurie schreiben konnte: Bruno sei einer der schlimm-
sten Ketzer, habe die verwerflichsten Dinge gethan, ein lockeres
und geradezu teuflisches Leben geführt -- im übrigen sei er
aber einer der ausgezeichnetsten Geister, die man sich denken
könne, von der seltensten Gelehrsamkeit und Geistesgrösse.
Der Wandertrieb und die Abenteuerlust der Humanisten, ja
ihr teilweise schwankungsreicher und unzuverlässiger Cha-
rakter entsprach dieser Unabhängigkeit des Geistigen, das
ihr Lebenszentrum bildete, von allen sonstigen Anforderungen
an den Menschen; sie musste eben gegen diese gleichgültig
machen. Der einzelne Humanist wiederholte, indem er sich
in der bunten Mannichfaltigkeit der Lebensverhältnisse be-
wegte, das Los des Humanismus, der den armen Scholaren
und Mönch ebenso wie den mächtigen Feldherrn und die
glanzvolle Fürstin in einem Rahmen geistigen Interesses
umfasste.

Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der
Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur.
Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie
angehört, dann der von ihm selbst gegründeten und damit
auch der seiner Frau, dann seinem Berufe, der ihn schon für
sich oft in mehrere Interessenkreise eingliedern wird (z. B.
in jedem Beruf, der über- und untergeordnete Personen ent-
hält, steht jeder in dem Kreise seines besonderen Geschäfts,
Amtes, Büreaus etc. darin, der jedesmal Hohe und Niedere
zusammenschliesst, und ausserdem in dem Kreise, der sich aus
den Gleichgestellten in den verschiedenen Geschäften etc.
bildet); wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zu-
gehörigkeit zu einem bestimmten socialen Stande bewusst ist,
ausserdem Reserveoffizier ist, ein paar Vereinen angehört und
einen die verschiedensten Kreise berührenden geselligen Ver-
kehr besitzt: so ist dies schon eine sehr grosse Mannichfaltig-
keit von Gruppen, von denen manche zwar koordiniert sind,
andere aber sich so anordnen lassen, dass die eine als die
ursprünglichere Verbindung erscheint, von der aus das Indi-
viduum auf Grund seiner besondern Qualitäten, durch die es
sich von den übrigen Mitgliedern des ersten Kreises ab-
scheidet, sich einem entfernteren Kreise zuwendet. Der Zu-
sammenhang mit jenem kann dabei weiter bestehen bleiben,
wie eine Seite einer komplexen Vorstellung, wenn sie psycho-
logisch auch längst rein sachliche Associationen gewonnen
hat, doch die zu dem Komplex, mit dem sie nun einmal in
räumlich-zeitlicher Verbindung existiert, keineswegs zu ver-
lieren braucht.


X 1.
schaft schlieſst und ihm seinen eignen Purpurmantel schenkt;
nur so war die Sonderung der rein geistigen Bedeutung von
alledem möglich, was sonst als wertvoll galt, infolge deren
der venetianische Senat bei der Auslieferung Giordano Bruno’s
an die Kurie schreiben konnte: Bruno sei einer der schlimm-
sten Ketzer, habe die verwerflichsten Dinge gethan, ein lockeres
und geradezu teuflisches Leben geführt — im übrigen sei er
aber einer der ausgezeichnetsten Geister, die man sich denken
könne, von der seltensten Gelehrsamkeit und Geistesgröſse.
Der Wandertrieb und die Abenteuerlust der Humanisten, ja
ihr teilweise schwankungsreicher und unzuverlässiger Cha-
rakter entsprach dieser Unabhängigkeit des Geistigen, das
ihr Lebenszentrum bildete, von allen sonstigen Anforderungen
an den Menschen; sie muſste eben gegen diese gleichgültig
machen. Der einzelne Humanist wiederholte, indem er sich
in der bunten Mannichfaltigkeit der Lebensverhältnisse be-
wegte, das Los des Humanismus, der den armen Scholaren
und Mönch ebenso wie den mächtigen Feldherrn und die
glanzvolle Fürstin in einem Rahmen geistigen Interesses
umfaſste.

Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der
Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur.
Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie
angehört, dann der von ihm selbst gegründeten und damit
auch der seiner Frau, dann seinem Berufe, der ihn schon für
sich oft in mehrere Interessenkreise eingliedern wird (z. B.
in jedem Beruf, der über- und untergeordnete Personen ent-
hält, steht jeder in dem Kreise seines besonderen Geschäfts,
Amtes, Büreaus etc. darin, der jedesmal Hohe und Niedere
zusammenschlieſst, und auſserdem in dem Kreise, der sich aus
den Gleichgestellten in den verschiedenen Geschäften etc.
bildet); wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zu-
gehörigkeit zu einem bestimmten socialen Stande bewuſst ist,
auſserdem Reserveoffizier ist, ein paar Vereinen angehört und
einen die verschiedensten Kreise berührenden geselligen Ver-
kehr besitzt: so ist dies schon eine sehr groſse Mannichfaltig-
keit von Gruppen, von denen manche zwar koordiniert sind,
andere aber sich so anordnen lassen, daſs die eine als die
ursprünglichere Verbindung erscheint, von der aus das Indi-
viduum auf Grund seiner besondern Qualitäten, durch die es
sich von den übrigen Mitgliedern des ersten Kreises ab-
scheidet, sich einem entfernteren Kreise zuwendet. Der Zu-
sammenhang mit jenem kann dabei weiter bestehen bleiben,
wie eine Seite einer komplexen Vorstellung, wenn sie psycho-
logisch auch längst rein sachliche Associationen gewonnen
hat, doch die zu dem Komplex, mit dem sie nun einmal in
räumlich-zeitlicher Verbindung existiert, keineswegs zu ver-
lieren braucht.


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[102/0116] X 1. schaft schlieſst und ihm seinen eignen Purpurmantel schenkt; nur so war die Sonderung der rein geistigen Bedeutung von alledem möglich, was sonst als wertvoll galt, infolge deren der venetianische Senat bei der Auslieferung Giordano Bruno’s an die Kurie schreiben konnte: Bruno sei einer der schlimm- sten Ketzer, habe die verwerflichsten Dinge gethan, ein lockeres und geradezu teuflisches Leben geführt — im übrigen sei er aber einer der ausgezeichnetsten Geister, die man sich denken könne, von der seltensten Gelehrsamkeit und Geistesgröſse. Der Wandertrieb und die Abenteuerlust der Humanisten, ja ihr teilweise schwankungsreicher und unzuverlässiger Cha- rakter entsprach dieser Unabhängigkeit des Geistigen, das ihr Lebenszentrum bildete, von allen sonstigen Anforderungen an den Menschen; sie muſste eben gegen diese gleichgültig machen. Der einzelne Humanist wiederholte, indem er sich in der bunten Mannichfaltigkeit der Lebensverhältnisse be- wegte, das Los des Humanismus, der den armen Scholaren und Mönch ebenso wie den mächtigen Feldherrn und die glanzvolle Fürstin in einem Rahmen geistigen Interesses umfaſste. Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur. Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie angehört, dann der von ihm selbst gegründeten und damit auch der seiner Frau, dann seinem Berufe, der ihn schon für sich oft in mehrere Interessenkreise eingliedern wird (z. B. in jedem Beruf, der über- und untergeordnete Personen ent- hält, steht jeder in dem Kreise seines besonderen Geschäfts, Amtes, Büreaus etc. darin, der jedesmal Hohe und Niedere zusammenschlieſst, und auſserdem in dem Kreise, der sich aus den Gleichgestellten in den verschiedenen Geschäften etc. bildet); wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zu- gehörigkeit zu einem bestimmten socialen Stande bewuſst ist, auſserdem Reserveoffizier ist, ein paar Vereinen angehört und einen die verschiedensten Kreise berührenden geselligen Ver- kehr besitzt: so ist dies schon eine sehr groſse Mannichfaltig- keit von Gruppen, von denen manche zwar koordiniert sind, andere aber sich so anordnen lassen, daſs die eine als die ursprünglichere Verbindung erscheint, von der aus das Indi- viduum auf Grund seiner besondern Qualitäten, durch die es sich von den übrigen Mitgliedern des ersten Kreises ab- scheidet, sich einem entfernteren Kreise zuwendet. Der Zu- sammenhang mit jenem kann dabei weiter bestehen bleiben, wie eine Seite einer komplexen Vorstellung, wenn sie psycho- logisch auch längst rein sachliche Associationen gewonnen hat, doch die zu dem Komplex, mit dem sie nun einmal in räumlich-zeitlicher Verbindung existiert, keineswegs zu ver- lieren braucht.

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/116>, abgerufen am 02.05.2024.