Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.aus Sibirien. und mußte gestehen daß Rousseau Recht hat. Wenn ichals ein Fremder in eine kirgisische Jurte komme, so kann ich sie ansehen, als die Meinige. Jch nehme ohne wei- tere Umstände den Platz ein, der mir gefällt. Nun ziehe ich meine Tobackspfeife heraus, fange an zu rauchen, gebe dem Wirthe für weniger als eines Pfennigs werth des schlechtesten Tobacks, rauche mit ihm und sogleich bin ich in den Augen des Kirgisen der beste Mensch in der Welt. Er wird es nicht zugeben daß mir das ge- ringste Leid geschehe. Sein Kümüß ist auch der meinige. Seiner Frau schenke ich ein Paar Nähnadeln und einen elenden Fingerhut; und nun kann ich von meiner Mut- ter nicht mehr Liebe fordern, als mir diese Frau giebt. Will ich ein Schaaf schlachten, so gebe ich einen Spie- gel, der mir 40 Kopeek kostet, oder ein Paar Barbier- messer, wovon das Stück 15 Kop. kostet. Für das Fell giebt mir der rußische Kaufmann wiederum 20 Kop. Jst das Fleisch gekocht, so setze ich mich mit dem Kirgi- sen nieder und esse nach Landes Gewohnheit ohne Löffel und Gabel. Nun bin ich gewiß daß mein Ruhm auf 100 Werst vor mich her geht, allenthalben nennt man mich Sultan (Törrö) oder Befehlshaber (Baschlick) und faßt mich unter die Arme, wenn ich zu Pferde stei- gen will. Alles dieses thut der Kirgise, der unter die allerwildesten Räuber in der Welt gehört. Jn den Län- dern wo unaufhörlich das Evangelium gepredigt wird, findet man weniger Menschlichkeit wie in den Ländern wo dies Evangelium unter die unbekannten Dinge ge- hört. Wer in großen volkreichen Städten gewohnt hat wird
aus Sibirien. und mußte geſtehen daß Rouſſeau Recht hat. Wenn ichals ein Fremder in eine kirgiſiſche Jurte komme, ſo kann ich ſie anſehen, als die Meinige. Jch nehme ohne wei- tere Umſtaͤnde den Platz ein, der mir gefaͤllt. Nun ziehe ich meine Tobackspfeife heraus, fange an zu rauchen, gebe dem Wirthe fuͤr weniger als eines Pfennigs werth des ſchlechteſten Tobacks, rauche mit ihm und ſogleich bin ich in den Augen des Kirgiſen der beſte Menſch in der Welt. Er wird es nicht zugeben daß mir das ge- ringſte Leid geſchehe. Sein Kuͤmuͤß iſt auch der meinige. Seiner Frau ſchenke ich ein Paar Naͤhnadeln und einen elenden Fingerhut; und nun kann ich von meiner Mut- ter nicht mehr Liebe fordern, als mir dieſe Frau giebt. Will ich ein Schaaf ſchlachten, ſo gebe ich einen Spie- gel, der mir 40 Kopeek koſtet, oder ein Paar Barbier- meſſer, wovon das Stuͤck 15 Kop. koſtet. Fuͤr das Fell giebt mir der rußiſche Kaufmann wiederum 20 Kop. Jſt das Fleiſch gekocht, ſo ſetze ich mich mit dem Kirgi- ſen nieder und eſſe nach Landes Gewohnheit ohne Loͤffel und Gabel. Nun bin ich gewiß daß mein Ruhm auf 100 Werſt vor mich her geht, allenthalben nennt man mich Sultan (Toͤrroͤ) oder Befehlshaber (Baſchlick) und faßt mich unter die Arme, wenn ich zu Pferde ſtei- gen will. Alles dieſes thut der Kirgiſe, der unter die allerwildeſten Raͤuber in der Welt gehoͤrt. Jn den Laͤn- dern wo unaufhoͤrlich das Evangelium gepredigt wird, findet man weniger Menſchlichkeit wie in den Laͤndern wo dies Evangelium unter die unbekannten Dinge ge- hoͤrt. Wer in großen volkreichen Staͤdten gewohnt hat wird
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0229" n="221"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">aus Sibirien.</hi></fw><lb/> und mußte geſtehen daß Rouſſeau Recht hat. Wenn ich<lb/> als ein Fremder in eine kirgiſiſche Jurte komme, ſo kann<lb/> ich ſie anſehen, als die Meinige. Jch nehme ohne wei-<lb/> tere Umſtaͤnde den Platz ein, der mir gefaͤllt. Nun ziehe<lb/> ich meine Tobackspfeife heraus, fange an zu rauchen,<lb/> gebe dem Wirthe fuͤr weniger als eines Pfennigs werth<lb/> des ſchlechteſten Tobacks, rauche mit ihm und ſogleich<lb/> bin ich in den Augen des Kirgiſen der beſte Menſch in<lb/> der Welt. Er wird es nicht zugeben daß mir das ge-<lb/> ringſte Leid geſchehe. Sein Kuͤmuͤß iſt auch der meinige.<lb/> Seiner Frau ſchenke ich ein Paar Naͤhnadeln und einen<lb/> elenden Fingerhut; und nun kann ich von meiner Mut-<lb/> ter nicht mehr Liebe fordern, als mir dieſe Frau giebt.<lb/> Will ich ein Schaaf ſchlachten, ſo gebe ich einen Spie-<lb/> gel, der mir 40 Kopeek koſtet, oder ein Paar Barbier-<lb/> meſſer, wovon das Stuͤck 15 Kop. koſtet. Fuͤr das Fell<lb/> giebt mir der rußiſche Kaufmann wiederum 20 Kop.<lb/> Jſt das Fleiſch gekocht, ſo ſetze ich mich mit dem Kirgi-<lb/> ſen nieder und eſſe nach Landes Gewohnheit ohne Loͤffel<lb/> und Gabel. Nun bin ich gewiß daß mein Ruhm auf<lb/> 100 Werſt vor mich her geht, allenthalben nennt man<lb/> mich Sultan (<hi rendition="#fr">Toͤrroͤ</hi>) oder Befehlshaber (<hi rendition="#fr">Baſchlick</hi>)<lb/> und faßt mich unter die Arme, wenn ich zu Pferde ſtei-<lb/> gen will. Alles dieſes thut der Kirgiſe, der unter die<lb/> allerwildeſten Raͤuber in der Welt gehoͤrt. Jn den Laͤn-<lb/> dern wo unaufhoͤrlich das Evangelium gepredigt wird,<lb/> findet man weniger Menſchlichkeit wie in den Laͤndern<lb/> wo dies Evangelium unter die unbekannten Dinge ge-<lb/> hoͤrt. Wer in großen volkreichen Staͤdten gewohnt hat<lb/> <fw place="bottom" type="catch">wird</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [221/0229]
aus Sibirien.
und mußte geſtehen daß Rouſſeau Recht hat. Wenn ich
als ein Fremder in eine kirgiſiſche Jurte komme, ſo kann
ich ſie anſehen, als die Meinige. Jch nehme ohne wei-
tere Umſtaͤnde den Platz ein, der mir gefaͤllt. Nun ziehe
ich meine Tobackspfeife heraus, fange an zu rauchen,
gebe dem Wirthe fuͤr weniger als eines Pfennigs werth
des ſchlechteſten Tobacks, rauche mit ihm und ſogleich
bin ich in den Augen des Kirgiſen der beſte Menſch in
der Welt. Er wird es nicht zugeben daß mir das ge-
ringſte Leid geſchehe. Sein Kuͤmuͤß iſt auch der meinige.
Seiner Frau ſchenke ich ein Paar Naͤhnadeln und einen
elenden Fingerhut; und nun kann ich von meiner Mut-
ter nicht mehr Liebe fordern, als mir dieſe Frau giebt.
Will ich ein Schaaf ſchlachten, ſo gebe ich einen Spie-
gel, der mir 40 Kopeek koſtet, oder ein Paar Barbier-
meſſer, wovon das Stuͤck 15 Kop. koſtet. Fuͤr das Fell
giebt mir der rußiſche Kaufmann wiederum 20 Kop.
Jſt das Fleiſch gekocht, ſo ſetze ich mich mit dem Kirgi-
ſen nieder und eſſe nach Landes Gewohnheit ohne Loͤffel
und Gabel. Nun bin ich gewiß daß mein Ruhm auf
100 Werſt vor mich her geht, allenthalben nennt man
mich Sultan (Toͤrroͤ) oder Befehlshaber (Baſchlick)
und faßt mich unter die Arme, wenn ich zu Pferde ſtei-
gen will. Alles dieſes thut der Kirgiſe, der unter die
allerwildeſten Raͤuber in der Welt gehoͤrt. Jn den Laͤn-
dern wo unaufhoͤrlich das Evangelium gepredigt wird,
findet man weniger Menſchlichkeit wie in den Laͤndern
wo dies Evangelium unter die unbekannten Dinge ge-
hoͤrt. Wer in großen volkreichen Staͤdten gewohnt hat
wird
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |