wusste man öffentlich gar nicht recht, wo sie waren: denn man hatte absichtlich ausgesprengt, das Schiff, welches alles von Livorno nach Portici und weiter nach Palermo schaffen sollte, sey zu Grunde gegangen, um die Aufmerksamkeit der Franzosen abzuziehen. Es steht aber zu befürchten, sie werden eine gute Nase haben und sich die Dame mit ihrer Gesellschaft nachholen. So viel ich Abgüsse davon gesehen habe, keiner hat mich befriediget. Sie ist, nach meiner Meinung, wohl keine himmlische Venus, sondern ein gewöhnliches Menschenwesen, das die Begierden viel¬ leicht mehr reitzen als beschwichtigen kann. Mir kommt es vor, ein Künstler hat seine schöne Geliebte zu einer Anadyomene gemacht; das Werk ist ihm ungewöhnlich gelungen: das ist das Ganze. Ueber die Stellung sind alle Künstler, welche Erfahrung ha¬ ben, einig, dass es die gewöhnlichste ist, in welche sich die Weiblichkeit setzt, sobald das letzte Stückchen Gewand fällt, ohne je etwas von der Kunst gehört zu haben. Ich selbst hatte einst ein eigenes ganz naives Beyspiel davon, das ich Dir ganz schlicht erzählen will. Der Russische Hauptmann Graf Dessessarts -- Gott tröste seine Seele, er ist wie ich höre an dem Versuche in Quiberon gestorben, den ich ihm nicht gerathen habe -- er und ich, wir gingen einst in Warschau in ein Bad an der Weichsel. Dort fanden sich, wie es zu gehen pflegt, gefällige Mädchen ein, und eine junge allerliebste niedliche Sünderin von un¬ gefähr sechzehn Jahren brachte uns den Thee, um wahrscheinlich auch gelegenheitlich zu sehen ob Ge¬ schäfte zu machen wären. Wir waren beyde etwas
wuſste man öffentlich gar nicht recht, wo sie waren: denn man hatte absichtlich ausgesprengt, das Schiff, welches alles von Livorno nach Portici und weiter nach Palermo schaffen sollte, sey zu Grunde gegangen, um die Aufmerksamkeit der Franzosen abzuziehen. Es steht aber zu befürchten, sie werden eine gute Nase haben und sich die Dame mit ihrer Gesellschaft nachholen. So viel ich Abgüsse davon gesehen habe, keiner hat mich befriediget. Sie ist, nach meiner Meinung, wohl keine himmlische Venus, sondern ein gewöhnliches Menschenwesen, das die Begierden viel¬ leicht mehr reitzen als beschwichtigen kann. Mir kommt es vor, ein Künstler hat seine schöne Geliebte zu einer Anadyomene gemacht; das Werk ist ihm ungewöhnlich gelungen: das ist das Ganze. Ueber die Stellung sind alle Künstler, welche Erfahrung ha¬ ben, einig, daſs es die gewöhnlichste ist, in welche sich die Weiblichkeit setzt, sobald das letzte Stückchen Gewand fällt, ohne je etwas von der Kunst gehört zu haben. Ich selbst hatte einst ein eigenes ganz naives Beyspiel davon, das ich Dir ganz schlicht erzählen will. Der Russische Hauptmann Graf Dessessarts — Gott tröste seine Seele, er ist wie ich höre an dem Versuche in Quiberon gestorben, den ich ihm nicht gerathen habe — er und ich, wir gingen einst in Warschau in ein Bad an der Weichsel. Dort fanden sich, wie es zu gehen pflegt, gefällige Mädchen ein, und eine junge allerliebste niedliche Sünderin von un¬ gefähr sechzehn Jahren brachte uns den Thee, um wahrscheinlich auch gelegenheitlich zu sehen ob Ge¬ schäfte zu machen wären. Wir waren beyde etwas
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wuſste man öffentlich gar nicht recht, wo sie waren:
denn man hatte absichtlich ausgesprengt, das Schiff,
welches alles von Livorno nach Portici und weiter
nach Palermo schaffen sollte, sey zu Grunde gegangen,
um die Aufmerksamkeit der Franzosen abzuziehen.
Es steht aber zu befürchten, sie werden eine gute
Nase haben und sich die Dame mit ihrer Gesellschaft
nachholen. So viel ich Abgüsse davon gesehen habe,
keiner hat mich befriediget. Sie ist, nach meiner
Meinung, wohl keine himmlische Venus, sondern ein
gewöhnliches Menschenwesen, das die Begierden viel¬
leicht mehr reitzen als beschwichtigen kann. Mir
kommt es vor, ein Künstler hat seine schöne Geliebte
zu einer Anadyomene gemacht; das Werk ist ihm
ungewöhnlich gelungen: das ist das Ganze. Ueber
die Stellung sind alle Künstler, welche Erfahrung ha¬
ben, einig, daſs es die gewöhnlichste ist, in welche
sich die Weiblichkeit setzt, sobald das letzte Stückchen
Gewand fällt, ohne je etwas von der Kunst gehört zu
haben. Ich selbst hatte einst ein eigenes ganz naives
Beyspiel davon, das ich Dir ganz schlicht erzählen
will. Der Russische Hauptmann Graf Dessessarts —
Gott tröste seine Seele, er ist wie ich höre an dem
Versuche in Quiberon gestorben, den ich ihm nicht
gerathen habe — er und ich, wir gingen einst in
Warschau in ein Bad an der Weichsel. Dort fanden
sich, wie es zu gehen pflegt, gefällige Mädchen ein,
und eine junge allerliebste niedliche Sünderin von un¬
gefähr sechzehn Jahren brachte uns den Thee, um
wahrscheinlich auch gelegenheitlich zu sehen ob Ge¬
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 390 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/418>, abgerufen am 22.11.2024.
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