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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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zweifeln. Jeder soll haben, was ihm zukommt. Die
Verzweiflung der Bösewichter ist Wohlthat für die
Welt; sie ist das Opfer, das der Tugend und der Gött¬
lichkeit unserer Natur gebracht wird. Verzweifle, wer
sich nicht bessern hann; die Vergebung der Sünden
kann ich nicht begreifen: sie ist ein Widerspruch, ge¬
hört zu den Gängelbändern der geistlichen Empirik,
damit ja niemand allein gehen lerne. Man darf nur
die Länder recht beschauen, wo diese entsetzliche
Gnade im grössten Umfange und Unfuge regiert; kein
rechtlicher Mann ist dort seiner Existenz sicher. Die
Geschichte belegt.

Hier in Salerne erhielt ich einen neuen Führer,
der mir sehr problematisch aussah. Er machte mich
dadurch aufmerksam, dass ich bey ihm ausserordent¬
lich sicher sey, weil er alles schlechte Gesindel als
freundliche Bekannten grüsste und meinte, in seiner
Gesellschaft könne mir nichts geschehen. Das begriff
ich und war ziemlich ruhig, obgleich nicht wegen sei¬
ner Ehrlichkeit. Er hatte mich öffentlich in der Stadt
übernommen; es galt also seine eigene Sicherheit,
mich dahin wieder zurück zu liefern: weiter hätte ich
ihm dann nicht trauen mögen. Wir fuhren noch
diesen Abend ab, und blieben die Nacht an der Stra¬
sse in einem einzelnen Wirthshause, wo sich der Weg
nach Pästum rechts von der Landstrasse nach Eboli
und Kalabrien trennt. Diese Landstrasse geht von
hier aus nur ungefähr noch vierzig Millien; dann
fängt sie an sicilianisch zu werden und ist nur für
Maulesel gangbar. Es war herrliches Wetter; der Him¬
mel schien mir an dem schönen Morgen vorzüglich

zweifeln. Jeder soll haben, was ihm zukommt. Die
Verzweiflung der Bösewichter ist Wohlthat für die
Welt; sie ist das Opfer, das der Tugend und der Gött¬
lichkeit unserer Natur gebracht wird. Verzweifle, wer
sich nicht bessern hann; die Vergebung der Sünden
kann ich nicht begreifen: sie ist ein Widerspruch, ge¬
hört zu den Gängelbändern der geistlichen Empirik,
damit ja niemand allein gehen lerne. Man darf nur
die Länder recht beschauen, wo diese entsetzliche
Gnade im gröſsten Umfange und Unfuge regiert; kein
rechtlicher Mann ist dort seiner Existenz sicher. Die
Geschichte belegt.

Hier in Salerne erhielt ich einen neuen Führer,
der mir sehr problematisch aussah. Er machte mich
dadurch aufmerksam, daſs ich bey ihm auſserordent¬
lich sicher sey, weil er alles schlechte Gesindel als
freundliche Bekannten grüſste und meinte, in seiner
Gesellschaft könne mir nichts geschehen. Das begriff
ich und war ziemlich ruhig, obgleich nicht wegen sei¬
ner Ehrlichkeit. Er hatte mich öffentlich in der Stadt
übernommen; es galt also seine eigene Sicherheit,
mich dahin wieder zurück zu liefern: weiter hätte ich
ihm dann nicht trauen mögen. Wir fuhren noch
diesen Abend ab, und blieben die Nacht an der Stra¬
ſse in einem einzelnen Wirthshause, wo sich der Weg
nach Pästum rechts von der Landstraſse nach Eboli
und Kalabrien trennt. Diese Landstraſse geht von
hier aus nur ungefähr noch vierzig Millien; dann
fängt sie an sicilianisch zu werden und ist nur für
Maulesel gangbar. Es war herrliches Wetter; der Him¬
mel schien mir an dem schönen Morgen vorzüglich

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[344/0370] zweifeln. Jeder soll haben, was ihm zukommt. Die Verzweiflung der Bösewichter ist Wohlthat für die Welt; sie ist das Opfer, das der Tugend und der Gött¬ lichkeit unserer Natur gebracht wird. Verzweifle, wer sich nicht bessern hann; die Vergebung der Sünden kann ich nicht begreifen: sie ist ein Widerspruch, ge¬ hört zu den Gängelbändern der geistlichen Empirik, damit ja niemand allein gehen lerne. Man darf nur die Länder recht beschauen, wo diese entsetzliche Gnade im gröſsten Umfange und Unfuge regiert; kein rechtlicher Mann ist dort seiner Existenz sicher. Die Geschichte belegt. Hier in Salerne erhielt ich einen neuen Führer, der mir sehr problematisch aussah. Er machte mich dadurch aufmerksam, daſs ich bey ihm auſserordent¬ lich sicher sey, weil er alles schlechte Gesindel als freundliche Bekannten grüſste und meinte, in seiner Gesellschaft könne mir nichts geschehen. Das begriff ich und war ziemlich ruhig, obgleich nicht wegen sei¬ ner Ehrlichkeit. Er hatte mich öffentlich in der Stadt übernommen; es galt also seine eigene Sicherheit, mich dahin wieder zurück zu liefern: weiter hätte ich ihm dann nicht trauen mögen. Wir fuhren noch diesen Abend ab, und blieben die Nacht an der Stra¬ ſse in einem einzelnen Wirthshause, wo sich der Weg nach Pästum rechts von der Landstraſse nach Eboli und Kalabrien trennt. Diese Landstraſse geht von hier aus nur ungefähr noch vierzig Millien; dann fängt sie an sicilianisch zu werden und ist nur für Maulesel gangbar. Es war herrliches Wetter; der Him¬ mel schien mir an dem schönen Morgen vorzüglich

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/370>, abgerufen am 22.11.2024.